Zur Problematik der sogenannten „Lebendigen Tradition” – Skizze zu einem Gedankenanstoß

Überlegungen von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 6. April 2015 um 12:35 Uhr
Foto: Joseph Ratzinger - Gesammelte Schriften, Vat. II

Im Zusammenhang mit der durch Msgr. Richard Williamson jüngst unerlaubt erteilten Bischofsweihe, die auch die Priesterbruderschaft St. Pius X. entschieden zurückgewiesen hat, erscheint es angemessen, Überlegungen zum Traditionsbegriff unseres Mitarbeiters Clemens Victor Oldendorf erneut in Erinnerung zu rufen.

Von Clemens Victor Oldendorf:

Früher schon habe ich hier auf einen wohl entscheidenden Konfliktpunkt im Motu Proprio Ecclesia Dei aus 1988 hingewiesen, wo Erzbischof Marcel Lefèbvre und seinen Gefolgsleuten in Nr. 4 ein unvollständiger und widersprüchlicher Traditionsbegriff unterstellt wird, weil dieser den „lebendigen Charakter” der Tradition nicht genügend berücksichtige. Die genauere Analyse dieses Vorwurfs, beziehungsweise seine Rückverfolgung und Rechtfertigung mit dem Offenbarungsverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich nicht wiederholen, sondern verweise dazu auf meine früheren, hier publizierten Arbeiten.

Tradition als überflüssiger Notbehelf aufgrund einer Fehlkonzeption?

In diesem neuen Beitrag möchte ich ein Zitat des Konzilstheologen Joseph Ratzinger hervorheben, auf das ich in seinen „Bemerkungen zum Schema ‘De fontibus revelationis’” (in: Ratzinger, J., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, Gesammelte Schriften, Tbd. 7/1, (Herder) Freiburg i. Breisgau 2012, SS. 157-174) gestoßen bin: „Wenn man die Offenbarung mit ihren Materialprinzipien identifiziert, dann muss man Tradition als eigenes Materialprinzip aufrichten, wenn nicht die Offenbarung als Ganze in der Schrift aufgehen soll. Wenn man aber Offenbarung als das Vorausgehende und Größere erkennt, dann kann man es ruhig dabei belassen, dass es nur ein Materialprinzip gibt, das dennoch immer noch nicht das Ganze ist, sondern nur das Materialprinzip der übergeordneten Größe Offenbarung, die in der Kirche lebt. Dann ergibt sich freilich auch, dass man die drei Größen Schrift – Überlieferung – Kirchliches Lehramt nicht statisch nebeneinander stellen kann, sondern als den einen lebendigen Organismus des Wortes Gottes betrachten muss, das von Christus her in der Kirche lebt” (ebd., S. 165). Ratzinger erhebt hier den Vorwurf eines defizitären, weil statischen Traditionsbegriffs. Strenggenommen sagt er sogar, eine fälschliche Identifikation der Offenbarung mit ihren Materialprinzipien erfordere überhaupt erst, „Tradition als eigenes Materialprinzip aufrichten” zu müssen, dass also eine inhaltlich-materiell bestimmte und klar umrissene „Tradition” in der Kirche zugespitzt gesagt letztlich eine, auf einem Irrtum beruhende, Vorstellung sei.

In der Kirche leben

Für Ratzinger scheint es eigentlich nicht die Tradition, sondern die „Größe der Offenbarung” zu sein, die „in der Kirche lebt”. Diese ist es ihm, die als der „lebendige Organismus des Wortes Gottes” „von Christus her in der Kirche lebt”. Wenn es auch richtig ist, dass die drei Größen „Schrift – Überlieferung – Kirchliches Lehramt” nicht statisch-steril nebeneinandergestellt werden können, müssen sie dennoch unterschieden werden, während Ratzinger sie quasi identifiziert, weil er sie als von der Größe der Offenbarung sozusagen umfangen denkt, „die in der Kirche lebt”. Soll demnach Tradition in der Kirche noch eine sinnvolle Aussage sein, dann ist „überliefern” im Endeffekt synonym mit „lehramtlich verkündigen”, beziehungsweise aufseiten der Gläubigen, die die Adressaten des Lehramtes sind, mit „in der Kirche leben”. Dies erinnert an das klassische „sentire cum Ecclesia”, entspricht ihm aber dennoch gerade nicht. Vielmehr verliert Tradition auf diese Weise in letzter Konsequenz ihre inhaltliche Bestimmtheit und kann nicht mehr Maßstab des jeweils aktuellen Lehramts sein, es kann per definitionem gar keinen Traditionsbruch geben, jedenfalls kann ein solcher prinzipiell nicht mehr diagnostiziert, nicht mehr festgestellt werden.

Ultramontaner Modernismus?

Es fragt sich also, ob das eigentliche Defizit des Traditionsbegriffes nicht weniger in zu großer Statik, als im Gegenteil vielmehr in allzu großer Dynamik besteht, welche die Tradition inhaltlich diffus werden lässt – oder in der „Tradition” nur noch positivistisch als jeweils aktuelle lehramtliche Verkündigung, die kirchlich rezipiert wird, bestehen kann. Betrachtet man das genau, gehen dabei allem Anschein nach Ultramontanismus und Modernismus eine skurrile Liaison ein.

Siehe auch:

Zum Begriff der Tradition

Ein Entwicklungsgang zum Mantra der Kontinuität?

Offenbarungsverständnis und Traditionsbegriff der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum

Foto: Joseph Ratzinger – Gesammelte Schriften, Vat. II – Bildquelle: Herder

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