Zwischen den Pontifikaten

Jörg Ernesti, geboren 1966 in Paderborn und 1993 für das Erzbistum Paderborn in Rom zum Priester geweiht, ist seit 2013 Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg und hat dort den Lehrstuhl für Mittlere und Neue Kirchengeschichte inne. Mit Biographien zu den Päpsten Benedikt XV. (2012) und Paul VI. (2016) sowie zu Leo XIII. (2019) ist er auch einem breiteren Publikum mit seiner Spezialisierung auf die jüngere Papstgeschichte längst bekannt. Die letztgenannte Darstellung zu Person und Pontifikat Leos XIII. wurde seinerzeit hier bereits vorgestellt.
Im vergangenen Jahr ist seine übergreifend angelegte Studie zu den Päpsten und Pontifikaten seit dem Jahr 1800 erschienen. Sie trägt den Titel Geschichte der Päpste seit 1800.
Nach einem Vorwort (vgl. S. 11-15) und einem knappen forschungsgeschichtlichen Überblick zur neuzeitlichen Papstgeschichte (vgl. S. 17-19) stellt Ernesti, beginnend mit Pius VII. (geboren 1742 als Luigi Barnaba Graf Chiaramonti, Papst seit 1800, verstorben 1823; vgl. S. 20-49), die Päpste und ihre jeweilige (Amts-)Zeit bis in unsere Gegenwart vor. Nachdem Papst Franziskus (geboren 1936 als Jorge Mario Bergoglio, Papst seit 2013; vgl. S. 450-482) kürzlich verstorben ist, befindet sich die Kirche wieder einmal in einer Zeit der Sedisvakanz des Stuhles Petri, zwischen den Pontifikaten, und ein Konklave zur Wahl eines neuen Papstes steht bevor.
Ein unkonventionell modelliertes Kardinalskollegium
Wegen der eigenwilligen Kriterien bei der Ernennung seiner Kardinäle, die Papst Franziskus anwandte und aufgrund der Tatsache, sich dabei nicht an jahrhundertealte Konventionen gebunden gefühlt zu haben, nach denen neuernannte Erzbischöfe bestimmter, traditionsreicher Metropolen quasi garantiert beim nächsten Konsistorium die Kardinalswürde erhalten, besteht im Kreis der gegenwärtigen Papstwähler, die ab dem 7. Mai 2025 zum Konklave zusammentreten, ein hohes Maß an Ungewissheiten und eine starke Unwägbarkeit des Ausgangs. Franziskus hat 108 der 135 Kardinäle, die diesmal wahlberechtigt sind und ihre Teilnahme zugesagt haben, selbst ernannt.
Da ist es einerseits verständlich, zur Annahme zu kommen, dass praktisch unausweichlich ein seinem (nämlich Franziskus‘) Bilde entsprechender Nachfolger als neuer Papst und Petrusnachfolger aus der Wahl hervorgehen muss. Ganz so sicher ist dies andererseits indes nicht, denn wohl zählten zu Papa Bergoglios Auswahlkriterien ein soziales Engagement und eine solidarische Nähe zu den Armen, ein Einsatz für Flüchtlinge und ähnliches. Er wollte aber außerdem einen Ausgleich schaffen, indem er gezielt Bischöfe ernannte (vereinzelt sogar einfache Weihbischöfe), die aus entlegenen Weltgegenden stammen, welche in der bisherigen Zusammensetzung des Wahlkörpers nicht oder viel zu wenig repräsentiert waren.
Die betreffenden Länder sind oftmals solche, in denen die katholische Kirche vital ist und wächst und das nicht obwohl, sondern weil Christen und speziell Katholiken dort unter Repression oder regelrechter Christenverfolgung stehen und sich trotzdem selbstgewusst in ihrem Glauben bewähren. Man kann deswegen davon ausgehen, dass diese sozusagen exotischen Kardinäle in vielen Fällen sogar dem Papst selbst weitestgehend unbekannt waren. Entsprechend offen ist es, in welchem Maße ein neugewählter Papst solcher Herkunft eine bergoglianische Linie fortführen oder doch wieder andere Akzente setzen würde. Diese offene Frage besteht auch innerhalb des Kardinalskollegiums, denn ein dritter Aspekt an Franziskus war fraglos seine Beratungsresistenz.
Eine Folge davon war, dass er zwar insgesamt in zwölf Amtsjahren zehn Konsistorien einberufen hat, um neue Kardinäle zu kreieren und so das Heilige Kollegium mit seinen eigenen Kardinälen gleichsam aufzuladen. Gleichzeitig jedoch hat er das Kardinalskollegium in seiner entscheidenden Funktion, den Heiligen Vater zu beraten, de facto ausgeschaltet. Zusammenkünfte aller Kardinäle mit Begegnung, Austausch und offener Diskussion fanden im jetzt zu Ende gegangenen Pontifikat, das in zahllosen Punkten so untypisch war und sein wollte, praktisch nicht statt. Sicherlich nur in eingeschränktem Umfang konnte das durch die Generalkongregationen ausgeglichen werden, durch das sogenannte Vor-Konklave, an dem auch diejenigen Purpurträger, die das 80. Lebensjahr bereits überschritten haben, teilzunehmen weiterhin berechtigt sind.
Nichts steht fest – auch nicht die Dauer des bevorstehenden Konklaves
Das Papsttum, nicht die Kirche, befindet sich zwischen zwei Pontifikaten und während eines Konklaves bis zur Wahl eines neuen Papstes stets in einer Art Schwebezustand. Namentlich durch die Kombination der Pontifikate Benedikts XVI. (geboren 1927 als Joseph Aloisius Ratzinger, Papst von 2005 bis 2013, verstorben erst 2022; vgl. S. 424-449) und von Papst Franziskus und durch den außerordentlichen Übergang zwischen beiden, nicht durch Ableben, sondern durch Amtsverzicht Papst Benedikts, galt das seit unvordenklichen Zeiten zusätzlich oder exponentiell gesteigert vom Konklave des Jahres 2013.
Diese Kombination und die Komponente des Rücktritts zusammen ergeben erst jene jetzige Ausgangslage, die man in Anlehnung an die wirtschaftswissenschaftliche Theorie Joseph Alois Julius Schumpeters (1883-1950) mit dem Begriff der Disruption als plötzlicher Störung – dieser entspräche Benedikts vorzeitiger Rückzug aus dem Papstamt – und mit demjenigen der konstruktiven Zerstörung zusammenbringen kann. Letztere ist dabei Papst Franziskus‘ Aufgabe oder Rolle, erfüllt mittels unvollendeter Impulse, die als bloße Anstöße sich jedenfalls in Zukunft seiner weiteren Lenkung und Steuerung entziehen.
Zukunft des Papsttums und der Kirche
Ernesti lässt seine Papstgeschichte der letzten 225 Jahre in Überlegungen münden zum Papsttum in der Moderne und verfolgt dabei nochmals Entwicklungslinien seit 1800 (vgl. S. 483-516) zurück. Wie sie weiter auszuziehen sind, ist vor dem Hintergrund des letzten Pontifikates und nächsten Konklaves ziemlich ungewiss, ein Nachfolger, der im Amt des Petrusdienstes auf Papst Franziskus folgt, ebenso schwierig wie die Art und Weise vorherzusehen, in denen er sich im Papstamt entwickeln kann und dieses dabei ausgestaltet.
Gerade falls das Konklave sich diesmal länger hinzieht, als wir es zuletzt gewohnt waren, ist Jörg Ernestis umfangreiche Geschichte der Päpste seit 1800 mit ihren insgesamt 574 Seiten eine optimale Empfehlung als Konklavelektüre. Eine wichtige Einsicht wird dabei für jeden verständigen Leser ausgerechnet die sein, dass alle Päpste Einzelpersönlichkeiten waren und deshalb auch jetzt kein Papst versuchen sollte, einen seiner unmittelbaren Vorgänger zu kopieren, schon gar nicht in den Gesichtspunkten, die in der ganz persönlichen Individualität, Charakterstruktur und Mentalität ihre Grundlage und Ursache hatten.
Der Name ist Programm
Die Programmatik, die in der Wahl des Papstnamens liegt, sollte deshalb nicht unterschätzt werden. Franziskus und Benedikt scheiden geradezu ebenso zwingend aus wie Johannes-Paul oder Johannes und Paul[1] allein. Mit Benedikt XVI. und Franziskus sind strenggenommen die letzten Päpste von uns gegangen, die wirklich noch persönlich vom Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) und von dessen unmittelbarer Umsetzung geprägt waren. Für die jetzigen Kardinäle und den künftigen Papst bedeutet das die Chance einer größeren Unvoreingenommenheit. Wegen einer Vereinnahmung oder verbreiteten Wahrnehmung der Namen Pius und auch Leo als pauschal rückwärtsgewandt käme womöglich ein Name wie Innozenz, der durch langen Nichtgebrauch eine gewisse Neutralität, aber auch neue Frische besitzen würde, als besonders gut geeignet in Betracht.
Nur Spezialisten für Papstgeschichte wie Jörg Ernesti würden darin auf Anhieb eine subtile Unabhängigkeit vom vergangenen Jesuitenpontifikat erkennen, denn sie allein wüssten um die deutliche Antipathie des bisher letzten Papstes mit Namen Innozenz gegen den Jesuitenorden: Innozenz XIII. (geboren 1655 als Michelangelo Herzog von Poli, Papst seit 1721, verstorben 1724).
Nach mehr als 300 Jahren wäre ein Innozenz XIV. nicht unbedingt so leicht und eindeutig in eine kirchenpolitische Schablone oder Schublade einzuordnen, zugleich die heute aktuelle Frage der Inkulturation des Glaubens durchaus verwandt mit dem Ritenstreit in China, in dem sich Innozenz XIII. mit den Jesuitenmissionaren auseinandergesetzt und gegen diese behauptet hatte.
Der historische Hiatus zum Zweiten Vatikanischen Konzil, der sich jetzt ergibt und in Zukunft nur noch vergrößern wird, eröffnet erstmals die Gelegenheit, dass ein Papst, der dazu die Willenskraft und Entschiedenheit hätte, die durch dieses Konzil und seine Reformen hervorgerufenen Probleme und Konflikte im Schumpeter’schen Sinne konstruktiv überwinden könnte.
Bibliographische Angaben und Bestellmöglichkeit: Herder-Verlag
[1]Der Name Paul wäre in seiner Aussageabsicht und Signalwirkung besonders ambivalent und unklar. Zwar würden diese Namenswahl in unserer geschichtsvergessenen Zeit die allermeisten Menschen auf Paul VI. (geboren 1897 als Giovanni Battista Montini, Papst seit 1963, verstorben 1978; vgl. S. 334-372) beziehen. Es wäre aber genauso möglich, an den exzentrischen Theatinerpapst Paul IV. (geboren 1476 als Gian Pietro Carafa, Papst seit 1555, verstorben 1559) und an dessen Bulle Cum ex apostolatus officio vom 15. Februar 1559 zu denken. Diese wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet, denn sie erscheint a) kanonistisch schwer vereinbar mit einem Mindestmaß an Rechtssicherheit in der Kirche und b) dogmatisch mit der Sichtbarkeit der Kirche. Dogmatisch läuft sie außerdem c) auf die Leugnung hinaus, dass eine echte Bekehrung von der Sünde der Häresie beziehungsweise des Schismas möglich ist, enthält also selbst hochproblematische Prämissen oder Konsequenzen. Schließlich käme Paul V.(geboren 1550 als Camillo Borghese, Papst seit 1605, verstorben 1621) als derjenige Amtsvorgänger infrage, in dessen spezieller Nachfolge ein potentieller Paul VII. sich verstehen könnte. Pauls V. Vorgehen im Gnadenstreit (1607), nämlich in einer theologischen Kontroverse zwischen Dominikaner- und Jesuitentheologen nicht zu entscheiden und lediglich zu verbieten, dass man sich gegenseitig der Häresie bezichtigt (dies ist bis heute Stand der Dinge), wäre unter Umständen ein denkbares Vorbild in wenigstens vielen der Interpretationskontroversen zu bestimmten Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Foto: Cover des Buches Geschichte der Päpste seit 1800 – Bildquelle: Herder-Verlag