Ein Papst an der Schwelle

Eine Buchbesprechung von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 16. Mai 2019 um 21:35 Uhr

Jörg Ernesti wurde 1966 in Paderborn geboren und 1993 fĂŒr sein heimatliches Erzbistum zum Priester geweiht. Seit 2013 ist er Professor fĂŒr Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Augsburg. Zuvor schon war er Ordinarius fĂŒr Kirchengeschichte und Patrologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen in SĂŒdtirol, an der er parallel weiterhin lehrt.

Nachdem Ernesti 2012 und 2016 Papst-Biographien zu Benedikt XV. und Paul VI. vorgelegt hat, ist jetzt 2019 eine Darstellung des Werdegangs und Pontifikats Leo‘ XIII. (1810-1903, Papst seit 1878) unter dem Titel Leo XIII. – Papst und Staatsmann bei Herder in Freiburg im Breisgau von ihm erschienen, zu der der Erzbischof von MĂŒnchen und Freising, Kardinal Reinhard Marx, ein Geleitwort beigetragen hat.

Leo XIII. ist ein Papst, dessen Lebens- und Amtszeit uns bereits ziemlich fernliegt und der dem Heutigen gleichsam entrĂŒckt ist. FĂ€llt sein Name, verbindet sich damit weithin höchstens noch in einigermaßen spezialisierten Fachkreisen das Stichwort der katholischen Soziallehre, welche Leo formuliert und angesichts einschneidender politischer und gesellschaftlicher Wendepunkte seiner Zeit strenggenommen als erster Papst lehramtlich systematisch entwickelt und vorgetragen hat, ansonsten wirkt noch sein Urteil betreffend die UngĂŒltigkeit der anglikanischen Weihen unverĂ€ndert fort.

Der Schwerpunkt der Soziallehre haftet auch den Seiten an, die Marx der Monographie vorausschickt, was jedoch verstĂ€ndlich ist oder wenigstens erwartet werden musste, ist er doch selbst von Haus aus Sozialethiker. Umso wichtiger und erfreulicher ist es, dass Jörg Ernesti ein ganzheitlicheres Bild von Person und Pontifikat zeichnet, in dem dieses Segment der Sozialethik zur VollstĂ€ndigkeit dazugehört, nicht jedoch das alles dominierende Mantra der WĂŒrdigung und Deutung ist.

Pförtner zur Moderne

Nach dem immens langen Pontifikat Pius‘ IX. als Übergangspapst gewĂ€hlt, war dem Pecci-Papst selbst eine unerwartet lange Regierungszeit beschieden, die wiederum ein Vierteljahrhundert umfasste. Die PrĂ€gekraft, die er nach den Weichenstellungen des Ersten Vatikanischen Konzils auf der praktisch-konkreten Ebene fĂŒr die Ausgestaltung des Papstamtes entfaltete, ist noch weitreichender einzuschĂ€tzen, da Leo sozusagen der erste medial prĂ€sente, populĂ€re Pontifex war, von dessen Stimme beispielsweise Tonaufzeichnungen angefertigt wurden und von dem es Filmaufnahmen gibt.

In seinem eigenen Vorwort drĂŒckt der Autor die Absicht und Hoffnung aus, „nicht nur fĂŒr Experten, sondern fĂŒr einen breiteren Leserkreis zu schreiben“ (S. 14), eine Zielrichtung, die er auch schon in seinen BĂŒchern ĂŒber Benedikt XV. und Paul VI. verfolgt habe. Nach der LektĂŒre des Leo-Buches kann der Rezensent dem Verfasser uneingeschrĂ€nkt bescheinigen, die dazu erforderliche Balance zwischen quellengesicherter Recherche und allgemeiner VerstĂ€ndlichkeit von neuem durchgehend erreicht zu haben. Dazu trĂ€gt sein flĂŒssig-eleganter Schreibstil ebenso bei wie die narrative Anschaulichkeit der Schilderung und die innere Logik ihres Aufbaus. ErgĂ€nzt wird die Aufbereitung der Fakten und ihres Zusammenhangs durch einen umfangreichen Bildteil (vgl. S. 362-402).

Leo XIII. als modellhafter Typus eines Papstes

Namentlich aufgrund der damals neuartigen MedienprĂ€senz Leo‘ XIII. kann man ihn als den ersten modernen Papst bezeichnen. Über dieses Charakteristikum gestaltet und formt er das Papsttum bis heute. In diesen Bereich seiner Wirksamkeit ist die extensive Veröffentlichung von Enzykliken durch Leo XIII. einzuordnen, die bereits in seiner Zeit als Diözesanbischof vorgebildet war, in der er sich intensiv des Instruments von Hirtenbriefen bediente, in deren Themenspektrum sich rĂŒckblickend bereits die programmatischen Eckdaten und Inhalte seines pĂ€pstlichen Lehramts ausmachen lassen (vgl. S. 58).

Die aristokratische Herkunft Leo‘ XIII. gab der AmtsfĂŒhrung des Papstes eine Aura mit, die nicht unmittelbare ZugĂ€nglichkeit meint, in diesem Sinne also nicht in einem simplen VerstĂ€ndnis als volkstĂŒmlich zu beschreiben ist. Indes war sie „von Anfang an auf Außenwirkung, auf Wahrnehmung dessen, was gedacht und geschrieben wurde, ausgerichtet“ (S. 18). Zugleich gehört hierher wohl auch der breite Interessensradius Papa Peccis, der lateinisch dichtete, Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin als Maßstab in der Priesterausbildung festschrieb und dabei technisch Ă€ußerst fortschrittsbegeistert war.

SpiritualitÀt und bodenstÀndige Frömmigkeitspraxis des Aristokraten

Der Untertitel von Ernestis Buch Papst und Staatsmann könnte nun bei manchem den Verdacht nĂ€hren, es konzentriere sich ebenfalls auf einen pragmatisch-politischen Zugang zu Leo XIII., wie man ihn so oft findet, wenn man sich ĂŒberhaupt noch mit ihm beschĂ€ftigt. TatsĂ€chlich ist es ein Hauptverdienst der neuen Biographie, die missionarischen Impulse Leos darzustellen, dank derer eine europĂ€ische Kirche trotz einer bleibenden und sogar weiter verstĂ€rkten Europazentriertheit zum Entstehen dessen beitrug, was wir heute vor Augen haben, wenn wir von Weltkirche sprechen. Leo XIII. war gleichzeitig ein weltgewandt-weitblickender und ein frommer, spiritueller Papst. Dies zeigt sich exemplarisch daran, dass er tĂ€glich den Rosenkranz betete und ganze neun Enzykliken zum Monat Oktober dem Rosenkranz widmete.

Leo‘ XIII. Beitrag zum TraditionsverstĂ€ndnis, Pius X.-Biographie als Desiderat

Warum die dritte Papst-Biographie aus Jörg Ernestis Feder empfehlen und lesen? Um auf diese Frage griffig zu antworten, wird man folgendes sagen können: Auch diejenigen, die in der Zeit nach dem Zweiten Vaticanum betonten Halt in der Tradition der Kirche suchen, beziehen sich in ihrem Bild davon hÀufig nur auf einige Pius-PÀpste, besonders Pius X. und Pius XII., in liturgicis formal auch noch auf Pius V. Die BeschÀftigung mit Leo XIII. kann diesen VerstÀndnishorizont vervollstÀndigen und ausgleichen und das Risiko minimieren, sich unbewusst eine eigene Fiktion der Tradition zurechtzulegen.

Nachdem Ernesti auch schon zu Benedikt XV. gearbeitet, sich also mit dem unmittelbaren Nachfolger Pius‘ X. und insofern zweifelsohne bereits mit der Modernismusproblematik  und der Quellenlage dazu befasst hat, möchte man den lebhaften Wunsch formulieren, er möge auch eine Biographie zu Pius X. selbst folgen lassen.

FĂŒr Leo XIII. wurde nie ein Seligsprechungsprozess eröffnet (vgl. S. 359). Zwar hĂ€tte Pius X. unter heutigen kirchenpolitischen Bedingungen bestimmt keine Chance mehr, auch nur seliggesprochen zu werden, so dass man begrĂŒĂŸen mag, dass er rasch in das Verzeichnis der Heiligen aufgenommen wurde, aber im Prinzip beginnt mit ihm das problematische PhĂ€nomen, PĂ€pste quasi von Amts wegen zur Ehre der AltĂ€re zu erheben und zwischen Selig- und Heiligsprechung viel zu kurze Zeitspannen verstreichen zu lassen (Pius wurde 1951 seliggesprochen und nach nur drei weiteren Jahren 1954 kanonisiert). In der mittlerweile eingetretenen Inflation entwickelt es sich nachgrade zu einem GĂŒtezeichen, dass Leo XIII. kein Sankt vor seinem Namen trĂ€gt.

Eine Biographie zu Pius X., davon zeugen Ernestis bisherige Lebensbeschreibungen von Petrusnachfolgern, wĂŒrde sich höchstwahrscheinlich weder von hagiographischer Überhöhung, noch von kirchenpolitischen Interessen, seien sie pro oder contra, vereinnahmen lassen, sondern eine faire und unvoreingenommen quellengestĂŒtzte EinschĂ€tzung auch dieses Papstes und Pontifikats leisten, die, insbesondere im deutschen Sprachraum, eigentlich immer schon und immer noch völlig fehlt.

Bibliographische Angaben: Ernesti, J., Leo XIII. – Papst und Staatsmann, 480 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag, (Herder) Freiburg i. Br. 2019, 38 Euro (D), ISBN: 978-3-451-38460-8

Foto: Buchcover, Leo XIII. Papst und Staatsmann – Bildquelle: Herder-Verlag

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

DatenschutzerklÀrung