Wolfgang Waldstein: In der Wirklichkeit des Naturrechts verwurzelt, stand er für sie ein
„Wer die Frage bedenkt: Was geschieht eigentlich im Grunde, wenn ein Mensch stirbt? – der fragt nach viel mehr als nach einem bestimmten punktuellen, datierbaren Ereignis. (…) Dringlich wird eine Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Dasein und nach seinem letztgründigen Sinn.“ (J. Pieper)
Uns stellt sich diese Frage angesichts des Todes des am 27. August 1928 im finnischen Hangö geborenen österreichischen Rechtsphilosophen und Römischrechtlers Wolfgang Waldstein. Gegen Mittag des gestrigen 17. Oktober 2023 ist er, im 96. Lebensjahr stehend, in seiner Salzburger Wohnung verstorben. Im Tode vorausgegangen war ihm seine geliebte Frau Marie Theresa Waldstein, genannt Esi (1930-2017). Über seine erste Begegnung mit ihr sagte er einmal mit der ihm eigenen, unnachahmlichen bescheidenen Vornehmheit und seinem bisweilen leicht verschmitzten, feinen Humor: „Als ich sie zum ersten Male sah, hatte ich sogleich den Eindruck, einem Wesen aus einer anderen Welt gegenüberzustehen. Glücklicherweise erwies sich die Distanz dennoch als überbrückbar.“ Wer das Ehepaar Waldstein erleben durfte, der spürte zwischen beiden bis zuletzt die so gewonnene Nähe und zarte Vertrautheit und erlebte den gelehrten Professor als ausgesprochen einfühlsam und charmant. Die Wesenszüge, die sich in der Ehe der Waldsteins zeigten, prägten – auf anderer Ebene – nicht minder das Auftreten Wolfgang Waldsteins und seinen (und seiner Gattin) Umgang mit anderen Menschen.
War dieser wie gesagt charmant und von herzlicher Freundlichkeit bestimmt, war Waldstein in seinen Überzeugungen ebenso markant und sogar unnachgiebig, was nicht etwa in einer Starrheit seines Denkens oder gar seines Charakters begründet lag, sondern von einem unerschütterlichen Bewusstsein hinsichtlich der Evidenz der ‚Wirklichkeit des Naturrechtes‘ getragen war. Damit geben wir das Stichwort, das am besten die Persönlichkeit des Verstorbenen zugänglich macht: Er war Jurist. Als Römischrechtler wird man leicht und nicht selten vorschnell der Rechtsgeschichte zugeordnet. Um es in einer Wendung, die sein Freund und Kollege und ebenfalls Salzburger Theo Mayer-Maly (1931-2007) geprägt hat, zu sagen, war Waldstein wie von der Wirklichkeit des Naturrechtes, so auch von der ‚heutigen Wirksamkeit des Römischen Rechtes‘ vollüberzeugt, die sich mit innerer Notwendigkeit aus dessen zutiefst naturrechtlichem Charakter ergibt. Am ehesten wird man Waldsteins Selbstverständnis als Rechtsgelehrter wohl gerecht, wenn man ihn im ulpianischen Sinne als Juristen begreift, der der vera philosophia verpflichtet ist und nach ihr strebt (vgl. Ulp. D. 1,1,1,1), und zwar als praktischer Rechtsphilosoph, nicht ausschließlich als Rechtstheoretiker, sondern dezidiert als einen Vertreter und Verfechter des angewandten Naturrechts.
Wolfgang Waldsteins Einsatz für den Erhalt der tridentinischen Messe
Seit der Liturgiereform Pauls VI. nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil stand Waldstein auch mit Joseph Ratzinger (1927-2022) in Verbindung und zwar ausgelöst durch die Fragestellung, wie er es einmal formulierte, ob es berechtigt sei, sich für den Fortbestand ‚der früheren Messe‘ einzusetzen, worin der spätere Papst Benedikt XVI. ihn bestärkte. Liest man Waldsteins 1977 erschienene Dokumentation Hirtensorge und Liturgiereform, erkennt man rasch, dass er als Jurist die formale Legitimität der Liturgiereform bejahend, nicht die Wiederbeseitigung der neuen Liturgie anstrebte, sondern ein Weiterbestehen der alten Messe auf dem Reformstand von 1965 (!) für jene, die dies wünschen. Seine Zielvorstellung lief also auf etwas hinaus, was einer weltweiten Anwendbarkeit des 1971 für England und Wales gewährten Indultes entsprochen hätte. Mit Summorum Pontificum war diese Situation von 2007 bis 2021 vollauf erfüllt und sogar übertroffen, denn der Stand von 1962 war Richtschnur.1988 war Waldstein instrumentell, um nicht zu sagen: providentiell mitbeteiligt gewesen, dass die neugegründete Priesterbruderschaft St. Petrus in Salzburg die Rektoratskirche St. Sebastian zu alleiniger Nutzung zugewiesen erhielt und dort eine kanonische Niederlassung errichtet wurde.
Aus der genannten Schrift von 1977 ergibt sich deutlich, dass Waldstein als Sprecher einer Initiative zum Erhalt der tridentinischen Messe keineswegs nostalgisch oder ästhetizistisch oder von kulturellem Bildungsdünkel angetrieben war. Das Anliegen war ganz klar die Bewahrung des katholischen Glaubens angesichts progressistischer Aufweichungen und Zerfallsprozesse, und der Interimsritus von 1965 war als Instrument zu dieser Bewahrung gedacht und frank und frei benannt. Was Waldstein nicht verleugnen konnte, war die juristische Methode und Argumentation, die er verfolgte und vortrug. Das macht Hirtensorge und Liturgiereform teilweise sicherlich beschwerlich zu lesen für den juristischen Laien, belegt aber doch, wie Waldstein sich immer treu blieb beziehungsweise, dass die Jurisprudenz ihm wirklich existentiell geworden war. Dass Waldstein der überlieferten Römischen Liturgie verbunden blieb und sich aktiv für sie einsetzte, mag sicherlich auch darin begründet sein, dass sich in ihr Grundlinien schon der heidnisch-römischen Religiosität und ihres Kultverständnisses ins Christliche hinein erhalten und fortgesetzt haben, und dieses Verständnis war nun einmal stark juridisch bestimmt.
Schwerpunkte in seinem Engagement für Staat und Gesellschaft
Freilich beschränkte sich das professorale und persönliche Engagement Waldsteins nicht auf das Liturgische. Ganz stark ausgeprägt war es auch für alle Bereiche des Lebensschutzes (wo er sich in der Frage der Euthanasie und Organspende scharf gegen das Hirntodkriterium abgrenzte) und von Ehe und Familie als naturrechtlich fundierter Institutionen, selbst im weltanschaulich sich als neutral verstehenden Staate. Der reine Positivismus als Konstruktivismus ist eine als Selbstbestimmungsrecht ausgegebene Verzerrung, die in den verschiedenen Gendertheorien wohl einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht hat, der – wäre er noch jünger und vitaler gewesen – zweifelsohne Waldsteins kämpferischen Widerspruch evoziert hätte.
Waldsteins Stellung in der Naturrechtsdiskussion und sein Vermächtnis
Außer dem schon erwähnten Theo Mayer-Maly ist Wolfgang Waldstein in einem Atemzuge zu nennen mit Persönlichkeiten wie Adolf J. Merkel (1836-1896), dessen Theorie vom `rechtlichen Stufenbau in der Rechtskraftlehre Waldstein zwar kritisch sah, nämlich sozusagen als Alternative zum Naturrecht, gleichsam als Umgehung der Wirklichkeit desselben betrachtete. Merkel wolle sich vom Naturrecht verabschieden, dabei aber eine theoretische Geltungsbegründung beibehalten, wie sie das Naturrecht gebe. Vom denkerischen Range her mindestens ebenbürtig ist Wolfgang Waldstein auch einem Leo Strauss (1899-1973). Dieser sagt einmal treffend: „Das Naturrecht abzulehnen, kommt der Aussage gleich, alles Recht sei positives Recht, und das heißt, was Recht ist, werde ausschließlich von den Gesetzgebern und Gerichtshöfen der verschiedenen Länder festgelegt. Nun ist es offensichtlich sinnvoll und manchmal sogar notwendig, von ‚ungerechten‘ Gesetzen oder ‚ungerechten‘ Entscheidungen zu sprechen. Wenn wir solche Urteile fällen, implizieren wir, daß es einen vom positiven Recht unabhängigen und über diesem stehenden Maßstab für Recht und Unrecht gibt: einen Maßstab unter Bezug auf den wir imstande sind, das positive Recht zu beurteilen“ (Strauss, L., Naturrecht und Geschichte [= Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von Heinrich Meier, Hamburg 2022], S. 10). Und etwas weiter fährt Strauss fort: „Ungeachtet dessen betrachten großzügige Liberale die Preisgabe des Naturrechts nicht nur in aller Seelenruhe, sondern mit Erleichterung. Sie scheinen zu glauben, daß unser Unvermögen, echtes Wissen darüber zu erlangen, was an [sic!] sich selbst gut oder recht ist, uns zwingt, jedwede Meinung über gut und recht zu tolerieren oder alle Präferenzen oder ‚Zivilisationen‘ als gleichermaßen respektabel anzuerkennen (ebd., S. 12).
In seinem 2010 erschienenen Buch Ins Herz geschrieben, das als Wolfgang Waldsteins Vermächtnis und als Summe seines Blicks auf das Naturrecht angesehen werden kann, betrachtet er es als das rechtliche Antlitz desjenigen Menschenbildes, welches seit der vorchristlichen Antike seine grundlegenden Konturen, sein Profil und seine inhaltliche Füllung vom Bewusstsein des Menschen her empfängt, Geschöpf zu sein und sagt: „Dies lässt sich so weit zurückverfolgen, wie überhaupt Spuren menschlichen Denkens zurückreichen, so etwa im berühmten Codex Hammurabi (um 1700 v. Chr.). Seit Hesiod (um 700 v. Chr.) ist die Kenntnis der Tatsache bezeugt, dass der Mensch mit seiner Existenz eine normative Ordnung vorfindet, die nicht von ihm stammt und der kausalen Ordnung der außermenschlichen Natur als ‚Ordnung des rechtlichen Sollens’ gegenübersteht“ (Waldstein, W., Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft, Augsburg 2010, S. 31). Für diese Einsicht hat Wolfgang Waldstein kompromisslos sein gesamtes Leben eingesetzt, persönlich und in seiner universitären, akademischen Lehrtätigkeit; als Mensch und als vom Glauben durchdrungener und inspirierter katholischer Christ. Requiescat in pace.
Update: 19.10.2023
Aus gegebenem Anlass weisen wir zudem noch einmal auf die folgenden Beiträge hin:
Wolfgang Waldstein. Mein Leben – Erinnerungen
Foto: Kreuzigung Christi – Bildquelle: Manuel Gómez