Begriff und Wirklichkeit – Zur Neuausgabe einer Anthologie von Newmantexten anlässlich der Heiligsprechung des englischen Konvertiten und Kardinals

Eine Rezension von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 25. Oktober 2019 um 18:17 Uhr
Grünewald-Verlag

Die Heiligsprechung Kardinal Newmans am Sonntag, den 13. Oktober 2019, die ich hier kommentiert habe und außerordentlich begrüße, ist dem Mainzer Matthias-Grünewald-Verlag Anlass gewesen, einen Querschnitt durch die Themen und Schriften des britischen Konvertiten neu aufzulegen. Die Anthologie, die als exemplarisch und repräsentativ gelten kann, um das Denken Newmans kennenzulernen und Einblick in Eigenart und Struktur dieses Denkens und Glaubens zu nehmen, war ursprünglich 1984 erschienen. Die Auswahl und Zusammenstellung hatte damals die Newmankoryphäe Günter Biemer (1929-2019) getroffen, dessen Gedenken die Neuausgabe der Textsammlung nunmehr gewidmet ist.

Die Auflagenzählung beginnt 2019 von vorne, denn verglichen mit dem damaligen Buch Leben als Ringen um die Wahrheit sind ihm jetzt in römischer Paginierung eine neue Einführung, die den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt, vorangestellt, in der Roman Siebenrock kenntnisreich zu Person, Biographie und Schrifttum Newmans hinführt und dessen weitere Wirksamkeit aufzeigt (vgl. S. I-XII), sowie ein Nachruf auf den Kompilator, den Gabriele Niekamp beigesteuert hat (vgl. S. XIII-XVI). Ansonsten scheint das Werk, dessen Titel ebenfalls beibehalten wird, im Wesentlichen ein reprographischer Nachdruck zu sein, wobei die überblicksartige, tabellarische Chronologie zu Newmans Leben und zu dessen Fortwirken (vgl. S. 13-18) bis zum Termin der Heiligsprechung ergänzt wurde. Dies belegt aber nur die unverminderte Mustergültigkeit der Textauswahl, welche ihre unveränderte Neuauflage rechtfertigt.

Zugehörigkeit und Spannungsverhältnis

Zur Titelfindung für diese Rezension habe ich mich von einem Zitat inspirieren lassen, in dem Newman meines Erachtens nach in griffiger Weise sein Verständnis von Erkenntnis und Zustimmung, von Theologie und von religiösem Glauben zusammenbringt: „Ein Dogma ist ein Satz. Er steht entweder für einen Begriff oder für ein Ding. Und es glauben heißt, ihm die Zustimmung des Geistes geben, so wie es für das eine [nämlich den Begriff, Anm. C. V. O.] oder für das andere [nämlich das Ding, Anm. C. V. O.] steht. Ihm eine reale Zustimmung geben, ist ein religiöser Akt; eine begriffliche [Zustimmung, Anm. C. V. O.] geben, ist ein theologischer Akt. Nicht als gäbe es hier – wirklich oder auch nur möglicherweise – eine Demarkationslinie oder Scheidewand. […] Wie der Intellekt allen Menschen gemeinsam ist und ebenso auch die Einbildungskraft, so ist auch jeder religiöse Mensch bis zu einem gewissen Grade ein Theologe, und keine Theologie kann anfangen oder gedeihen ohne die einleitende und bleibende Gegenwart der Religion“ (S. 209, Hervorhebung kursiv zur Verdeutlichung des Gemeinten, C. V. O.).

Begriff und Ding oder Begriff und Wirklichkeit, wie die Hauptüberschrift dieses Beitrags es fasst, sind für Newman im Zustimmungsakt des Glaubenden wohl unterschieden und unterscheidbar wie die zwei Seiten einer Medaille, dabei jedoch zugleich untrennbar wie dieselben, wenn der Zustimmungsakt echt sein und voll gelingen soll. Glaubensakt ist er nur dann, wenn er sich existentiell der Offenbarung als Wirklichkeit stellt, nicht theoretisch und abstrakt bei einer rein intellektuell-wissenschaftlichen Bejahung von Begriffen verbleibt. Allerdings muss er zu seiner Vollständigkeit auch immer diese begriffliche Zustimmung umfassen und kann diese nicht abstreifen oder aufgeben, ohne hinfällig zu werden.

Newman als Minimalist in der Frage der persönlichen Unfehlbarkeit des Papstes

Als Zeitzeuge des Ersten Vatikanischen Konzils sah sich Newman genötigt, sich gegen eine ultramontane Strömung zu wenden, die dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit eine Maximalinterpretation zu geben bestrebt war. Aufschlussreich dabei ist, wie Newman generell die Funktion eines Dogmas bestimmt: „Die Kirche (hat) stets die größte Sorgfalt darauf verwendet, den Umfang der Wahrheiten und den Sinn der Sätze, für welche sie diese absolute Annahme fordert, nach Möglichkeit einzuschränken“ (S. 277, kursiv C. V. O.). Das ist eine wichtige Feststellung. Das Dogma tendiert nicht dazu, sich maximal zu erstrecken, definiert wird möglichst ein Minimum. Positiv ausgedrückt: Der Großteil bleibt offen, die Präzision einer dogmatischen Definition ergibt sich durch das, was von ihr ausgeschlossen bleibt. In Newmans eigenen Worten an anderer Stelle: „Wie vorsichtig ist die Autorität in ihrem Eingreifen“ (S. 257)!

Wenn es einen Einfluss Newmans auf das Zweite Vaticanum gab, dann war es vielleicht am ehesten der, dass dieses keine neuen Dogmen verkündet hat, was man von dieser Warte aus möglichweise auch aus konservativer und dezidiert traditionsgebundener Perspektive doch einmal positiv würdigen sollte, nicht nur als Abweichung von der Praxis früherer Konzilien und als Mangelerscheinung begreifen muss.

In seiner gelehrten Einleitung führt Siebenrock treffend aus, wie Newman „von den vielfach verurteilten Modernisten aufgegriffen worden ist“ (S. VIII), doch dafür, wer ihn rezipiert und wie dies geschieht, kann ein Autor – erst recht posthum – nicht zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn Newman mit Development und der Betonung der Stimme des Gewissens Stichworte gegeben hat, die dann die Modernisten bereitwillig für sich in Anspruch genommen haben. Ihnen erwidert er jedenfalls: „Ich bemerke, daß das Gewissen nicht ein Urteil über irgendeine spekulative Wahrheit, über eine abstrakte Lehre ist, sondern sich unmittelbar auf ein Verhalten bezieht, auf etwas, was getan werden muß oder nicht getan werden darf“ (S. 275).

Mittels Heiligsprechung ruhiggestellt?

Gern möchte sich der Rezensent die Worte Siebenrocks aneignen: „So froh und dankbar ich mit allen Freundinnen und Freunden über die Heiligsprechung Newmans bin, […] so gefährlich kann diese Erhebung zur Ehre der Altäre auch werden. Denn wenn damit die Meinung verbunden sein sollte, dass diese Person nicht mehr anstößig, ja provokant sei, weil schon alle seine [sic, es müsste hier eher ihre heißen, weil der Rückbezug sich auf das Femininum Person richtet, Anm. C. V. O.] Anregungen zum lebendigen Eigentum der Kirche geworden wären, dann wäre eine Heiligsprechung wohl nichts anderes als ein großes Missverständnis“ (S. 1f).

Man könnte diese Problematik nach meinem Dafürhalten fortspinnen und fragen, ob es nicht ein typisch dialektischer Kontrast gewesen ist, Newman ausgerechnet im Rahmen der Amazonas-Synode zu kanonisieren. Wiederum kann man wortwörtlich mit Siebenrock nachhaken, der freilich in variiertem Kontext formuliert: „Dient es [das Gewissen des einzelnen] nur zur Umsetzung der Lehre des kirchlichen Lehramtes, oder kommt ihm auch eine eigenständige theologische Würde zu, die im Krisenfall auch dazu berechtigt, gegen die aktuelle allgemeine Lehrtradition, wie die Biographie Newmans vor und nach dem Ersten Vatikanischen Konzil eindrucksvoll zeigt, auch einen Nicht-Konsens zu begründen“ (S. IX-X)?

Heutige „Traditionalisten“, die sicherlich in vielem vor allem in ultramontanem Traditionsstrang stehen, können meines Erachtens einen solchen Nicht-Konsens berechtigt auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil begründen, erst recht angesichts von dessen spezifisch neuartigem Lehrtypus eines pastoralen Konzils. Freilich: Sie müssten sich selbst vorderhand die Frage stellen, ob die Ultramontanisten des 19. Jahrhunderts dazu tatsächlich ihre am besten geeigneten Verbündeten sind oder nicht doch deren damaliger Besänftiger, der heilige John Henry Kardinal Newman, ihr neuer, passender Patron Saint sein könnte.

Ein offen gebliebenes Desiderat: Die Newman-Werkausgabe in Neuauflage

So dankenswert die Neuauflage der Newman-Anthologie durch den Grünewald Verlag ist, soll es nicht versäumt werden, daran zu erinnern, dass es dieser selbe Verlag gewesen war, der von 1951 bis 1969 die deutsche Newman-Ausgabe der Ausgewählten Werke herausgebracht hat. Fünfzig Jahre später wäre es eine noch bessere Idee gewesen, die sieben Bände (einer davon in zwei Teilbänden erschienen) dieser Edition – gegebenenfalls ebenso um eine aktuelle Einleitung erweitert – neu aufzulegen.

Leben als Ringen um die Wahrheit
Grünewald-Verlag
1. Auflage 2019
Format 14 x 22 cm
384 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
mit Leseband
ISBN: 978-3-7867-3205-1
€ 38,00

Foto: Leben als Ringen um Wahrheit – Bildquelle: Grünewald-Verlag

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung