Wir sind teuer erkauft worden durch das Blut Christi am Kreuz
âSingt dem Herrn ein neues Lied, denn er hat wunderbare Taten vollbracht âŠâ. So beginnt der Introitus (Eröffnungsvers) des 5. Sonntages der Osterzeit in der sogenannten ordentlichen Form des Römischen Ritus (NO). Die groĂen Taten werden sodann in der Collecta, dem Tagesgebet, genannt: Es sind unsere Erlösung durch Gottes Sohn und unsere Annahme als seine âgeliebten Kinderâ. In der amtlichen deutschen Ăbersetzug der Oration heiĂt es:
Gott, unser Vater, du hast uns durch deinen Sohn erlöst und als deine geliebten Kinder angenommen. Sieh voll GĂŒte auf alle, die an Christus glauben, und schenke ihnen die wahre Freiheit und das ewige Leben. Darum bitten wir durch Jesus Christus.
Die Erlösung und die Gotteskindschaft  durch die Annahme âals seine geliebten Kinderâ stehen in einem kausalen Zusammenhang: Erstere zielt auf letztere, und die Gotteskindschaft hat ihren Gund, ihre Ursache in der Erlösung durch das Ostergeheimnis von Kreuz und Auferstehung. Im lateinischen Originaltext wird dies sprachlich durch die rhetorische Figur des Chiasmus, die Ăberkreuz-Stellung einander entsprechender Satzteile oder Wörter, einprĂ€gsam hervorgehoben:
Deus, per quem nobis et redemptio venit et praestatur adoptio, filios dilections tuae benignus intende, ut in Christo credentibus et vera tribuatur libertas et hereditas aeterna. Per Dominum.
Die redemptio (Erlösung) wird der adoptio (Annahme) gegenĂŒbergestellt. Durch die chiastische Stellung, die dadurch erzielt wird, dass dem ersten Substantiv (redemptio) das Verb (venit) folgt, dem zweiten Substantiv (adoptio) das Verb (praestatur) vorangestellt ist, werden Erlösung und Annahme einander zugeordnet und dadurch der kausale Zusammenhang zwischen beiden auch sprachlich anschaulich gemacht. Da die deutsche Sprache aufgrund syntaktischer GesetzmĂ€Ăigkeiten zu diesen Wortfiguren nicht in der Lage ist, kann die deutsche Oration diese rhetorische Figur im lateinischen Text nicht nachahmen. Die lateinischen Orationen des Messbuches sind Beispiele spĂ€tklassischer Kunstprosa, die ihr Vorbild in der klassischen Rhetorik Roms hat, die ihrerseits vom alten Griechenland gelernt hat.
Im lateinischen Original hört man nicht nur Erlösung, wenn von der redemptio die Rede ist. Die lateinische Collecta lĂ€Ăt noch die klassische Bedeutung von Loskauf (redimere = los-, freikaufen) mitschwingen. Im alten Rom wurde ein Sklave durch die redemptio, den Loskauf, âaus der VerfĂŒgungsgewalt eines anderen Herrn losgekauft und als freier Sohn in die eigene familia aufgenommenâ (Alex Stock), ein Gedanke, den wir im neuen Testament zurĂŒckfinden (1 Kor, 6, 20; 7, 23; Offb 5, 9). Der himmlische Vater hat durch das blutige SĂŒhnopfer seines Sohnes am Kreuz die Menschen aus der Machtgewalt des Teufels losgekauft (redemptio) und als seine Kinder in seinen himmlischen Machtbereich aufgenommen (adoptio).
Das geschieht an jedem einzelnen  durch die Taufe. âDie Taufe reinigt nicht nur von allen SĂŒnden, sondern macht den Neugetauften zugleich zu einer âneuen Schöpfungâ (2 Kor 5, 17), zu einem Adoptivsohn Gottes (filium Dei adoptivum); er hat âan der göttlichen Natur Anteilâ (2 Petr 1, 4), ist Glied Christ, âMiterbeâ mit ihm (Röm, 8, 17) und ein Tempel des Heiligen Geistesâ (KKK 1265).
Dass der Getaufte Adoptivkind Gottes ist, verdankt er der Erlösungstag Christi am Kreuz, dem Loskauf (redemptio) aus dem Machtbereich des Teufels, aus SĂŒnde und Tod. An diesem 5. Sonntag in der Osterzeit bittet die Kirche, dass Gott, der himmlische Vater, auf die  GlĂ€ubigen, die an der Feier der heiligen Eucharistie teilnehmen, âvoll GĂŒteâ (benignus) schaue, damit er ihnen einst die âwahre Freiheitâ (vera libertas) und das âewige Erbeâ (hereditas aeterna), die aus der gnadenhaften Adoptivkindschaft folgt, schenke. Schon jetzt ist der Getaufte durch den Loskauf befreit und besitzt bereits ein Unterpfand des ewigen Erbes im Himmel. Aber erst in der himmlischen Gemeinschaft mit dem Vater im Sohn und durch den Heiligen Geist wird dem Getauften die wahre Freiheit und das ewige Erbe in HĂŒlle und FĂŒlle zuteil.
Foto: Vom Goldgrund der Kirchengeschichte (Buchcover) – Bildquelle: Patrimonium-Verlag