Was Ratzingers Theologie so faszinierend macht

Ein Kommentar von Mag. Michael Gurtner
Erstellt von Mag. Michael Gurtner am 27. Januar 2012 um 10:02 Uhr
Papst Benedikt XVI.

Wenn der Theologe Josef Ratzinger, in welcher Funktion auch immer, ob als Professor, Prediger, Kurienkardinal, Vortragender oder Pontifex spricht oder schreibt, so horchen vieler Ohren auf – jene der Kritiker und Gegner ebenso wie jene seiner Freunde und Gleichgesinnten. Sicherlich tut man dies schon allein auf Grund des Amtes, keine Frage. Wenn ein einfacher Landkaplan dasselbe sagt oder schreibt wie ein Präfekt einer Kongregation oder ein Papst, werden die Reaktionen ganz gewiß unterschiedlich ausfallen, auch wenn das Gesagte identisch ist. Während der eine internationale Kommentare hervorruft, bleibt der Landkaplan weitgehend ungehört, auch wenn das Gesagte dasselbe ist. Da braucht man sich nichts vorzumachen.

Es wird von einem deutschen Alumnen, mittlerweile Priester, berichtet, welcher im Seminar als unpastoral galt, der Schwierigkeiten mit dem Heute hätte und einfach unfähig wäre, zu den Menschen des Heute zu sprechen. Damit, so warf man dem rombezogenen Seminaristen vor, wäre er von den römischen Erwartungen an einen Priester weit entfernt, ganz anders sei er als sein großes Vorbild Johannes Pauls II, welchen der Regens des Seminares und die Studienkollegen ebenso schätzten, wie man beteuerte. Regelmäßig wurden seine Übungspredigten verbal zerrissen, und wenn er sich auf den Papst berief, so hieß es dieser sehen das ganz anders, weniger verknöchert. So war es auch bei einer Übungspredigt, die ebenso zerrissen wurde – woraufhin der Alumne nach der üblichen Kritik eröffnete, daß er zur eben gehaltenen Übungspredigt ganz einfach eine Predigt Papst Johannes Pauls II kopiert und vorgetragen hätte, welcher diese auf einem seiner Pfarreibesuche gehalten hatte. Soviel zum Zusammenhang von Rede und Redner.

Doch ungeachtet dieser unbestreitbaren Tatsache gibt es jedoch etwas in den schriftlichen und mündlichen Beiträgen von Josef Ratzinger, was fasziniert und bannt, und dieses Etwas geht über den „Amtsbonus“ hinaus. Es ist etwas, das in den Texten selbst, bzw. genauergesagt im Denken welches sich in Textform ausdrückt zugrundeliegt.

Es gibt keine „Ratzinger`sche Schule“

Dem Lehr- und Amtsverständnis Josef Ratzingers völlig zuwiderlaufend wäre es, eine eigene Schule zu begründen und damit etwas Eigenes zu entwerfen. Die Figur des Theologen ist nach Ratzingers Verständnis derjenige, welcher als Person ganz zurücktritt um etwas Größerem Raum zu geben und dieses Größere durch die eigene Stimme ans Licht zu heben. Es geht für ihn nicht darum zuerst auszuloten was noch nicht gesagt wurde, welche kreative Idee sozusagen noch unbesetzt ist um es dann eben auszusagen und für sich zu besetzen um so als besonders originär zu gelten und sich so vielleicht auch ein Denkmal zu setzen, sondern es geht ihm als aufrichtigen Denker um die alte, einfache aber oft schwer zu lösende Frage: Was ist nun die Wahrheit?

Diese Wahrheit will er sich denkerisch erringen und sie dann auch weitervermitteln, auch wenn sie schon hundertmal wiederholt wurde. Genau das aber macht ihn zu einem wahrhaft kirchlichen Denker, zu einem der in der Kirche, für sie und mit dieser mitdenkt. Von daher ist der Beruf des Theologen kein kreativer, sondern ein rezipierender. Das Ich des Theologen tritt hinter das große Wir der Kirche zurück.

Genau darin ist jedoch das Faszinosum der „Theologie Ratzingers“, die es als solche eben gerade nicht gibt, gelegen: in seinem Denken findet sich nicht das (private) Denken eines beliebigen Menschen der auch ein anderer sein könnte, sondern das in Jahrhunderten gereifte Denken der Kirche. Er gibt der Kirche seine Stimme und seinen Stift, und sagt das was die Kirche uns sagt. Seine Schriften hängen letztlich nicht an ihm, sondern an der Kirche. Und genau das macht sein theologietreiben so groß und anziehend.

Auffallende Parallelen zwischen Theologen- und Amtsbild

Es ist interessant, ja geradezu schon spannend festzustellen, daß wir dasselbe, was wir eben skizzenhaft angedeutet haben (und was sich in einem wissenschaftlichen Apparat durch zahlreiche Textstellen aus dem Werk Ratzingers belegen ließe) auch 1:1 auf ein weiteres Thema anwenden ließe: das Bild, welches Ratzinger von der Theologie hat, scheint sich auch mit seinem Bild vom Weiheamt zu decken. Exemplarisch sei hierbei etwa auf die Predigten und Ansprachen anläßlich seiner Bischofsweihe sowie den beiden liturgischen Amtseinführungsmessen als Bischof von Rom verwiesen, weil diese ihn selber betreffen, doch auch bei zahlreichen anderen Anlässen, etwa Priester- und Bischofsweihen brachte Kardinal und Papst Ratzinger diesen Gedanken des Zurücktretens des eigenen hinter das Größere der Kirche zum Ausdruck.

Diese Parallele ist bemerkenswert, besonders wenn man sie in Zusammenschau mit den Unterschieden dieser beiden Größen betrachtet, denn so wird klar daß die Aufgabe des Theologen dem kirchlichen Lehramt einerseits zwar untergeordnet ist, andererseits aber zugleich auf dieses hingeordnet. Der Theologe ist derjenige der um die Wahrheitsfindung ringt. Dabei ist ihm auch durch den Glaubenspräfekten, freilich im Rahmen den das Lehramt vorgibt, eine wissenschaftliche Freiheit zugestanden, und er selbst tritt auch immer wieder in diesen wissenschaftlichen Diskurs mit ein. Doch wo es Streitigkeiten und Unklarheiten gibt, dort liegt es nicht an den Theologen zu entscheiden, sondern am Lehramt, weil dieses über die reine wissenschaftliche Fachgelehrtheit hinausgeht.
Der theologale Glaube der Kirche als Gesamtes impliziert in sich eine jede übernatürliche Einzelwahrheit, welche sich im Spruch des Lehramtes explizit machen möchte. Dabei kann der Theologe Wertvolles beitragen insofern der Glaube auch einer Vernunft unterliegt, doch er kann dabei nicht den wesentlicheren Anteil des Lehramtes übernehmen. So haben Theologie und Lehramt ihren jeweils eigenen Anteil und Auftrag im Gesamt der Glaubensverkündigung der Kirche, dürfen aber nicht miteinander verwechselt oder vermischt werden.

Dessen war sich auch der junge Professor bewußt, und so beklagte er sich als Peritus, d.h. beratender Konzilstheologe bei einer ehemaligen Studienkollegin und nunmehrigen Professorenkollegin Prof. Elisabeth Gößmann als er von der ersten Session des zweiten Vatikanischen Konzils heimgekehrt war, daß es doch nicht richtig sein könne wenn die Bischöfe, welche ja über den Theologen stehen (der er ja selber war), von diesen belehrt werden und anschließend das verkünden, was die Theologen sagen.

Von daher stehen Lehramt und Theologen im Dienste derselben Wahrheit und arbeiten auf dasselbe Ziel hin, haben jedoch unterschiedliche Aufgaben, wobei das Lehramt über den Theologen steht und deren Grenze ist, wobei sich gerade in dem der göttlichen Wahrheit Untergeordnetsein und dem hinter diese Zurücktreten eine große, deutliche Parallele abzeichnet, welche letztlich Theologe und Lehramt miteinander verbindet.

Weil dieses Prinzip in der Theologie Ratzingers immer wieder deutlich zutage tritt, und sozusagen nicht Ratzinger sondern die Kirche durch seine Schriften zu uns spricht, sind diese mit einer besonderen Glaubhaftigkeit ausgestattet und der Seele besonders erbaulich.

Besonders die jungen sind angezogen

Diese Theologie, so wie sie Ratzinger betreibt, schafft etwas, das sich viele seiner Kollegen und auch seiner Gegner für sich erhofft hatten, es aber nicht zustande brachten und deshalb, so merkt man doch recht deutlich, ihm vieles neiden: sein Denken hat „Nachwuchs“. Ein Segen, der so manchem seiner ehemaligen Kollegen verwehrt bleibt, schlichtweg weil der Wahrheitsgehalt eines Dominus Iesus in seiner bekenntnishaften Klarheit zur Kirche Christi bestechender ist und dessen Überzeugungskraft wie ein Magnet wirkt als ein diffuser Weltethos in dem alles vor lauter Irenik letztlich ein großes Nichts zu werden scheint.

Es scheint so, daß jene Schriften welche momentan einer heftigen Kritik ausgesetzt sind lebhafter sind und einen weitaus größeren Wirkradius haben als die Schriften jener die diese Kritik initiieren und welche zwar kurzfristig einen großen, lauten Beifall verursachen, von dem aber, einmal verschallt, nichts wirklich übrigzubleiben scheint was zukunftsweisend wäre.

Von daher sehen wir besonders die jungen von den Schriften Ratzingers angezogen, was jedoch nicht allein auf das Alter bezogen ist: jugendlich ist was Kraft hat und Zukunftsträchtig ist, unabhängig vom biologischen Alter der oftmals junggebliebenen Autoren oder Rezipienten.

Fromme Vernunft und vernünftige Frömmigkeit

Schließlich und endlich kann man nicht ein besonderes Charakteristikum unerwähnt lassen, durch welches sich das theologische Wirken Josef Ratzingers auszeichnet: das gegenseitige Durchwobensein von Vernunft und Frömmigkeit. Beides schließt einander nicht aus, jedoch bemerken wir bei den meisten Autoren eine jeweils ungesunde Verlagerung auf die eine oder andere Seite, so als ob frommer Glaube und wissenschaftlicher Intellekt einander als Konkurrenten gegenüberstünden.

Bei Ratzinger merkt man hingegen ein wohltuendes Ringen um das, was tatsächlich Sache ist. Besonders wenn man ältere mit neueren Schriften zum selben Thema miteinander vergleicht wird man sich gewahr, wie sehr er um die Vertiefung des Sachlage bemüht ist, wobei auch immer die Bereitschaft besteht, sich selbst zu korrigieren und zu verbessern, während andere die einmal gefundene Position eisern verteidigen. Im Licht der Vernunft formt sich seine Frömmigkeit in Sprache aus, und im Glanze katholischer Frömmigkeit prägt sich seine Theologie aus.

Im Disput mit den Theologen, welcher sich wegen deren Starrsinn oftmals als recht schwierig gestaltet, gesteht er dennoch jedem ein wissenschaftliches Herantasten an die Wahrheit zu, insofern eine Sache noch nicht entschieden ist. Argumente, auch solche der Gegner, tut er nicht einfach mit einem Nein beiseite, sondern er hört sie durchaus an und geht insofern auf sie ein, daß er deren Denkfehler zu korrigieren sucht, wie ein guter Lehrer der seinem Schüler etwas beizubringen sucht – er denkt sich in das Denken der anderen hinein, ohne dabei sein eigenes, von der Kirche geleitetes denken aufzugeben. Was gut und richtig ist, ist er durchwegs bereit auch anzunehmen.

Diese Fähigkeit des angemessenen Disputes kommt, um nur einige Beispiele zu benennen, etwa im berühmt gewordenen Gespräch mit Jürgen Habermas zum Ausdruck, ebenso in seinen Stellungnehmen auf die Kritik von Dominus Jesus oder in seinen Reaktionen um die Befreiungstheologie oder die feministische Theologie.

Die Argumentationen des Theologen Josef Ratzinger setzen genau dort an, wo die Fehlerhaftigkeit des Gegenübers zu orten ist, stets getragen von Respekt und Wertschätzung gegenüber der Person, doch klar in der Sache, stets mit dem Blick auf das Kreuz. Insofern hat, im positivsten Sinne, dessen Theologie beinahe etwas archaisches, da man es besonders bei den meisten Theologen der Nachkonzilszeit kaum noch findet (vereinzelt freilich schon noch, aber es ist eher zur seltenen Ausnahme geworden), daß jemand die Rechte der wissenschaftlichen Vernunft vollkommen respektiert und zugleich dabei die Grenzen nicht überschreitet, eben weil er weiß daß er im Auftrag eines anderen, nämlich der Kirche, schreibt und spricht, sich selbst zurückzunehmen weiß und absolut uneitel die Lehre darlegt, stets im Bestreben die Wahrheit zu vertiefen.

Ein solches Theologietreiben, das nicht um seiner selbst willen geschieht, sondern im Dienste der Wahrheit steht und insofern an der Wahrheit Gottes selbst partizipiert hat eine ungemein anziehende, weil überzeugende  Wirkung, gerad auch auf jüngere Generationen. Dieser Stil, welchen der Theologe Josef Ratzinger wieder vorgelegt hat, kommt Gott sei Dank wieder mehr in Mode.
Wissenschaftliches Theologietreiben darf nicht als überflüssiger Zierrat betrachtet werden, welcher Priester von der Pfarrarbeit abhält. Nein, Theologie, so sie nur recht betrieben ist, ist ein wesentlicher Bestandteil der Neuevangelisierung, weil sie denen, welche in den Pfarreien stehen sozusagen das Futter reicht, welches dann an die Gläubigen weitergereicht wird. Nichts ist so anziehend wie eine vernunftgemäße, fromme Theologie – sie macht die Entscheidung zum Glauben leichter, aber sie zieht auch neue Berufungen an. Im letzten ist es mit dem Theologietreiben Ratzingers wie mit dem grünen Spinat: sie ruft wohl viel Kritik und Widerstand hervor, doch hält sie vital und gesund, sie kräftigt und sie stärkt. Und das ist es, was am Ende zählt.

Foto: Benedikt XVI. – Bildquelle: Fabio Pozzebom/ABr

 

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