Vatikanum II: Verbindung von historisch-kritischer und dogmatisch-kirchlicher Exegese
Einleitung von Gero P. Weishaupt:
In Artikel 12 der Offenbarungskonstitution Dei Verbum geht es um die Auslegung der Heiligen Schrift. Das Konzil gibt dabei den Auslegern (Exegeten, Bibelwissenschaftlern, Theologen) zwei Wege vor, die nicht voneinander getrennt werden dĂŒrfen, sondern aufeinander verwiesen sind. Im ersten Abschnitt nennen die KonzilsvĂ€ter die sogenannte historisch-kritische Methode, im zweiten Abschnitt die traditionellen Auslegungsprinzipien (Hermeneutik) einer Exegese von der Ăberlieferung her, d.h. vom Glauben der Kirche (dogmatisch-kirchliche Exegese)
Bejahung der historisch-kritischen Methode
Nachdem die Katholische Kirche bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine Abwehrhaltung gegenĂŒber der historisch-kritischen Methode in der Bibelexegese eingenommen hatte, da diese Methode vom Ursprung her dem rationalistisch-aufklĂ€rerischen Klima des 17. und 18. Jahrhunderts entstammte und nahezu ausschlieĂlich im Raum der liberalen protestantischen Theologie zur Anwendung kam, hat sie diese Haltung mit der Enzyklika Divino afflante Spiritu Papst PiusÂŽ XII. von 1943 revidiert. Dort hat Pius XII. auf die Notwendigkeit der Erforschung des Literalsinnes der biblischen Texte und der Redaktionskritik hingewiesen.
Das Zweite Vatikanische Konzils greift diesen Faden auf und entwickelt ihn auf der Grundlage des erweiterten Offenbarungsbegriffes (siehe erstes Kapitel von DV) weiter. So konnte die PĂ€pstliche Bibelkommission 1993 erklĂ€ren: âDie historisch-kritische Methode ist die unerlĂ€ssliche Methode fĂŒr die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte. Da die Heilige Schrift, als `Wort Gottes in menschlicher Sprache`, in all ihren Teilen und Quellen von menschlichen Autoren verfaĂt wurde, lĂ€sst ihr echtes VerstĂ€ndnis diese Methode nicht nur als legitim zu, sondern es erfordert auch ihre Anwendungâ.
Zur historisch-kritischen Methode, die die KonzilsvĂ€ter in Dei Verbum 12 bejahen, gehören nach Thomas Söding (in: Wege der Schriftauslegung) Textkritik, Situationsanalyse (Zeit- und Rahmenbedingungen eines Textes), Kontextanalyse (literarisches Umfeld eines Textes), Formanalyse (Erfassung der sprachlichen Erscheinung eines Textes), Gattungsanalyse (Brief, ErzĂ€hlungen, Gleichnisse, Evangelium, geschichtliche Darstellungen, Prophetenwort etc.), Traditionsanalyse (BerĂŒcksichtigung des Wachstumsprozesses eines Textes), Redaktionsanalyse (VerĂ€nderungen eines Texte im Laufe eines Ăberlieferungsprozesses).
Dogmatisch-kirchliche Exegese
Doch kann sich Exegese, so die KonzilsvĂ€ter, nicht in der fĂŒr das TextverstĂ€ndnis und dessen, was Gott nostrae salutis causa, um unseres Heiles willen, offenbaren wollte, notwendigen historisch-kritischen Methode erschöpfen. Die Crux heutiger Theologenausbildung ist, dass Exegese an den theologischen FakultĂ€ten (und Priesterseminaren) nahezu ausschlieĂlich historisch-kritisch orientiert ist, d.h. die Auslegung der heiligen Schriften der Bibel rein nach den Regeln der Vernunft erfolgt – mit allen negativen Folgen in der VerkĂŒndigung und fĂŒr den Glauben.  Eine solche einseitige Exegese wird den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils, wie sie in Dei Verbum 12 dargelegt werden, nicht gerecht, da Gottes Wort zwar in Menschenwort zu uns kommt, aber sich darin keineswegs dem Menschen, dem Adressaten der Offenbarung Gottes, ganz und abschlieĂend erschlieĂt. Die Problematik des Bruches von Glaube und Vernunft, auf die Joseph Ratzinger in seinen Schriften und als Benedikt XVI. in seiner VerkĂŒndigung als Papst wiederholt hingewiesen hat, spiegelt sich auch in der Methode der Exegese wider, nĂ€mlich da, wo die dogmatisch-kirchliche Methode auĂen vor gelassen wird, anstatt – konzilsgetreu – die historische-kritische Methode in diese hinein zu integrieren, also beide Methoden der Exegese miteinander zu verbinden.
Konzilshermeneutik: Neues und Altes miteinander verbinden
Ursache fĂŒr die weitgehende Ausblendung der sog. dogmatischen, an den KirchenvĂ€tern, dem vierfachen Schriftsinn, der Tradition der Kirche und der Analogie des Glaubens orientierten Exegese nach dem Konzil ist die unverbindliche GegenĂŒberstellung (Juxtapostion) beider Methoden im Konzilstext selber und die Frage nach dem VerhĂ€ltnis beider Methode zueinander. Jedenfalls fĂŒhrt eine exklusive Sichtweise nicht zu dem, was die KonzilsvĂ€ter mit dem Text intendierten, wenngleich eine klarere und unzweideutige Formulierung wĂŒnschenswert gewesen wĂ€re, gerade im Hinblick auf Fehlinterpretationen in der Rezeptionsgeschichte des Konzilstext.
Darum gilt es, will man dem Konzil gerecht werden, wie auch bei anderen ambivalenten Aussagen des Konzils die komplimentĂ€re Sichtweise im Auge zu behalten. Eine komplimentĂ€re Sichtweise besagt: im Rahmen einer „Hermeutik der Reform in KontinuitĂ€t“ (Benedikt XVI.) das, was das Konzil an Neuem bringt (Reform), mit dem Alten zu verbinden (KontinuitĂ€t). Das Neue, d.h. in Dei Verbum 12 die historisch-kritische Methode, kann nur unter Wahrung des Alten, d.h. der spezfisch kirchlichen, die dogamtische Tradition berĂŒcksichtigenden Bibelsauslegung gewĂŒrdigt weden.
Ziel der Exegese
Denn Gottes Wort geht ĂŒber die Aussageabsicht des Hagiographen (des inspirierten Autors der heiligen Texte) hinaus, wenngleich diese freilich Medium und Ausgangspunkt der Offenbarung Gottes bleibt und daher Exegese beim menschlichen Verfasser und dessen Aussageabsicht anzusetzen hat. Aber damit ist Exegese noch nicht am Ziel. Vielmehr ist die historisch-kritische Exegese nur ein âSchritt auf dem Weg zu einem theologischen Verstehenâ (Ludger Schwienhorst-Schönberger). Der volle, eigentliche Sinn der biblischen Texte, der sensus plenior, der dem Hagiographen noch gar nicht besuĂt war und gar nicht bewuĂt sein konnte, erschlieĂt sich nur unter BerĂŒcksichtigung âder lebendigen Ăberlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubensâ, so die KonzilsvĂ€ter (DV 12). Die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese sind aus diesem Grund stets âin das traditionelle Modell der Bibelhermeneutik zu integrierenâ (Luger Schwienhorst-Schönberger).
Text von Dei Verbum 12 (Deutsch â Latein)
Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muĂ der SchrifterklĂ€rer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfĂ€ltig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrĂŒckt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der ErklĂ€rer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der damals ĂŒblichen literarischen Gattungen – hat ausdrĂŒcken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muĂ man schlieĂlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und ErzĂ€hlformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr ĂŒblich waren.
Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muĂ, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daĂ man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter BerĂŒcksichtigung der lebendigen Ăberlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was die Art der SchrifterklĂ€rung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottergebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen.
Cum autem Deus in Sacra Scriptura per homines more hominum locutus sit, interpres Sacrae Scripturae, ut perspiciat, quid Ipse nobiscum communicare voluerit, attente investigare debet, quid hagiographi reapse significare intenderint et eorum verbis manifestare Deo placuerit. Ad hagiographorum intentionem eruendam inter alia etiam genera litteraria respicienda sunt. Aliter enim atque aliter veritas in textibus vario modo historicis, vel propheticis, vel poeticis, vel in aliis dicendi generibus proponitur et exprimitur.
Oportet porro ut interpres sensum inquirat, quem in determinatis adiunctis hagiographus, pro sui temporis et suae culturae condicione, ope generum litterariorum illo tempore adhibitorum exprimere intenderit et expresserit. Ad recte enim intelligendum id quod sacer auctor scripto asserere voluerit, rite attendendum est tum ad suetos illos nativos sentiendi, dicendi, narrandive modos, qui temporibus hagiographi vigebant, tum ad illos qui illo aevo in mutuo hominum commercio passim adhiberi solebant.
Sed, cum Sacra Scriptura eodem Spiritu quo scripta est etiam legenda et interpretanda sit, ad recte sacrorum textuum sensum eruendum, non minus diligenter respiciendum est ad contentum et unitatem totius Scripturae, ratione habita vivae totius Ecclesiae Traditionis et analogiae fidei. Exegetarum autem est secundum has regulas adlaborare ad Sacrae Scripturae sensum penitius intelligendum et exponendum, ut quasi praeparato studio, iudicium Ecclesiae maturetur. Cuncta enim haec, de ratione interpretandi Scripturam, Ecclesiae iudicio ultime subsunt, quae verbi Dei servandi et interpretandi divino fungitur mandato et ministerio.
Foto: KonzilsvÀter. Bildquelle: Lothar Wolleh / Wikipedia