Vaticanum II – Das Verhältnis von Schrift und Ãœberlieferung

Artikel 9 von Dei Verbum ist ein Kompromisstext.
Erstellt von Gero P. Weishaupt am 26. September 2015 um 17:20 Uhr
Vaticanum II, Konzilsväter

Einleitung von Gero P. Weishaupt:

In Artikel 9 der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils heben die Konzilsväter die Einheit von Tradition (Ãœberlieferung) und Heiliger Schrift hervor: „Die Heilige Ãœberlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil.“ Man merkt dem gesamten Text des Artikels (und des folgenden Artikels 10) das Ringen der Konzilsväter um eine Verhältnisbestimmungen der beiden Formen der einen göttlichen Offenbarung an. „Artikel 9 führt in den eigentlichen Brennpunkt der Kämpfe hinein: in die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis von Schrift und Ãœberlieferung. Die Frontstellung der Diskussion gegen den Begriff der ´zwei Quellen`der Offenbarung ist im Text noch deutlich zuerkennen“ (Joseph Ratzinger). Dieses Ringen führte zu einem inhaltlich „nebulösen“ Text (Roberto de Matei). Otto Hermann Pesch spricht von „steilen Kompromißformeln“, die den Text kennzeichnen.

Sowohl die Heilige Schrift als auch die Ãœberlieferung

Hintergrund ist das ökumenische Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils: Martin Luther lehrte, dass die Offenbarung nur eine Quelle habe, nämlich die Heilige Schrift (sola scriptura). Dahingegen ist es Lehre der Katholischen Kirche, vom Trienter Konzil im Zusammenhang mit den reformatorischen Einwänden kirchenamtlich – ohne auf die Grundfrage nach dem Wesen der Tradition näher einzugehen – festgelegt, dass die im Evangelium enthaltene Wahrheit und Ordnung sowohl (et) in der Heiligen Schrift als auch (et) in den ungeschriebenen Traditionen (et … et = sowohl … als auch) enthalten ist. „Die gewählte Formulierung ´et … et`ist offen für eine Interpretation mehr im Sinne der alten Kirche, wonach in Schrift und Tradition je das Ganze der Offenbarung in einem unterschiedlichen Modus enthalten ist“ (Gerhard Ludwig Müller). Dabei wird durch die Tradition „nicht additiv etwas zu den in der Schrift bezeugten Wahrheit hinzugefügt. Es geht um die kirchlich-sakramentale Weitergabe der Offenbarung, die selbst im Modus ihrer geschichtlichen und kirchlichen Präsenz das Prinzip ihrer Vergegenwärtigung und Erfahrung im Glaubensbewußtsein der Kirche ist“ (Gehard Ludwig Müller).

Vorrangstellung der Heiligen Schrift

Die Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils heben allerdings die Vorrangstellung der Heiligen Schrift gegenüber der Tradition durch unterschiedlichen Defintionen hervor. Während die Heilige Schrift das „schriftlich festgehaltene Sprechen Gottes ist“, wird die Tradition „nur funktional beschrieben, von dem her, was sie tut: Sie vermittelt Gottes Wort, ´ist` es aber nicht. Aufgabe der Überlieferung ist das treue „(B)wahren, (E)rklären und (A)usbreiten“ des in der Heiligen Schrift Geoffenbarten. Tradition ist daher „nicht produktiv, sondern `konservativ´, dienend einem Vorgegebenen zugeordnet“ (Joseph Ratzinger). Auf dem Hintergrund dieses Schrift- und Traditionsverständnisses betonen schließlich die Konzilsväter, dass „die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft“. Beide Weisen der Offenbarung sollen daher „mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden“.

Text von Dei Verbum 9 (Deutsch – Latein)

Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden.

Sacra Traditio ergo et Sacra Scriptura arcte inter se connectuntur atque communicant. Nam ambae, ex eadem divina scaturigine promanantes, in unum quodammodo coalescunt et in eundem finem tendunt. Etenim Sacra Scriptura est locutio Dei quatenus divino afflante Spiritu scripto consignatur; Sacra autem Traditio verbum Dei, a Christo Domino et a Spiritu Sancto Apostolis concreditum, successoribus eorum integre transmittit, ut illud, praelucente Spiritu veritatis, praeconio suo fideliter servent, exponant atque diffundant; quo fit ut Ecclesia certitudinem suam de omnibus revelatis non per solam Sacram Scripturam hauriat. Quapropter utraque pari pietatis affectu ac reverentia suscipienda et veneranda est.

Foto: Konzilsväter – Bildquelle: Lothar Wolleh / Wikipedia

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