Sakraler Raum – „heilige Handlung“ – Profanierung. Zur (fehlenden) Vermittelbarkeit von heiliger Messe und Liturgie an sich im Livestream

Ein Beitrag von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 18. April 2020 um 22:11 Uhr
Kelch

Um Quarantäne und Isolation während der Corona-Krise zu überbrücken, haben viele christliche Gemeinschaften und Gemeinden den Livestream für sich entdeckt, womit sie ihre Gottesdienste übertragen und so ihre Gläubigen, die zu Hause bleiben müssen, sich jedenfalls nicht zu Gottesdiensten versammeln können, erreichen. Dies tun evangelische Christen und Katholiken gleichermaßen. Anschließend bleiben diese Übertragungen dann auf Youtube weiterhin verfügbar.

Dass das für die Predigt kein Problem aufwirft, vielmehr Vorteil moderner Möglichkeiten ist, ist ohne Schwierigkeit zuzugeben. Trotzdem erstaunt es etwas, dass insbesondere Protestanten mit diesem Notbehelf kein grundsätzlicheres Problem haben. In deren Sichtweise ist doch die Kirche jeweils da präsent, wo eine Gemeinde sich versammelt, das Evangelium recht gepredigt und die Sakramente (jeweils in deren reformatorischen Umfang und Verständnis) recht ausgespendet werden. Grundlegend sind nicht Predigt und Sakramentenspendung für sich genommen. Die Gemeindeversammlung zu Predigt und Sakramenten macht vor Ort die Kirche aus.

Lutheraner kennen eine wahre Gegenwart des Herrenleibes im Brot und von Christi Blut im Abendmahlskelch, beschränken sie jedoch darauf, in Usu gegeben zu sein, das heißt: im Moment des Empfanges von Abendmahlsbrot und –wein (oder sogar –traubensaft).

Heilige Messe ortsgebunden und dennoch raumüberhoben

So gesehen erleichtert der katholische Glaube die Vorstellung und Praxis, sich im Geiste in die heilige Messe zu versetzen oder mit dem eucharistisch gegenwärtig bleibenden Herrn in Beziehung zu treten. Nach katholischem Glauben ist die heilige Messe nie nur eine Feier des einzelnen Priesters oder einer konkreten Gemeinde, sie ist immer Feier und Opfer der ganzen Kirche, und in diesen größeren Radius ist die Gemeinde, die zur Messe zusammenkommt, einbezogen und selbst katholische Kirche. Dies ist der Grund, warum in jeder heiligen Messe Papst und Ortsbischof genannt werden, womit der zelebrierende Priester und die versammelte Gemeinde ihr konkret gerade gefeiertes Messopfer als Opfer der Kirche ausweisen und zugleich als in Gemeinschaft mit der Kirche stattfindend legitimieren.

Gottesdienste in den Medien während der Corona-Pandemie

Die Frage ist also, ob es die Liveübertragung der heiligen Messe braucht, damit der Gläubige geistig-geistlich sich in Gemeinschaft mit der Liturgie und dem Kult der Kirche bringen kann.

Ich habe schon in zurückliegenden Beiträgen dafür plädiert, dies zu verneinen.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht in zwei Beschlüssen anerkannt hat, dass im Livestream übertragene heilige Messen keinen vollwertigen Ersatz für die persönliche Teilnahme bieten und der praktisch völlige Ausfall öffentlicher Gottesdienste, die man besuchen kann, seitdem nochmals verlängert worden ist, ist wegen zwei Aspekten die Frage nach der Übertragung der heiligen Messe ein weiteres Mal aufzugreifen.

Gemeinsame Messfeiern noch länger nicht möglich

Auch wenn das Versammlungsverbot, von dem gemeinsame Gottesdienste betroffen sind, an den allermeisten Orten zeitlich ausgedehnt wurde, steht fest, dass es befristet ist und kein Dauerzustand sein wird. Es kann auch nicht beliebig oft verlängert werden. An die Verhältnismäßigkeit sind strenge Maßstäbe im Blick auf die weitere Entwicklung der Corona-Pandemie und die Gewinnung von Impfstoffen beziehungsweise wirksamen Medikamenten anzulegen.

Obwohl nun gerade die Kar- und Ostertage betroffen waren, muss dennoch zunächst gefragt werden, ob nicht eine Abwertung derer darin liegt, die alters- oder krankheitsbedingt dauerhaft ausschließlich über Funk und Fernsehen mit der Liturgie der Kirche verbunden bleiben können, wenn man es als unzumutbar behauptet, sich vorübergehend in einer gravierenden Ausnahmesituation wie momentan damit zufriedenzugeben. Die Technik des Internets und Livestreams ist überdies denen, denen grundsätzlich die persönliche Teilnahme nie mehr oder nur höchst selten möglich ist, in der Mehrzahl weder vertraut noch zugänglich.

Diese Personenkreise ziehen aus dem Anschauen oder Anhören von Gottesdiensten Erbauung und Kraft, jedenfalls psychologisch und emotional eine Stütze, die ihnen niemand wegnehmen will.

Auch Traditionalisten mehrheitlich streamingbegeistert

Da aber Livestreams der überlieferten heiligen Messe derzeit weltweit wie Pilze aus dem Boden schießen, die übrigens für den liturgisch Interessierten sehr sehenswert sein mögen, weil anschaulich wird, wie unterschiedlich ein und dieselbe klassische Liturgie an verschiedenen Orten und in diversen Gemeinschaften gestaltet und akzentuiert wird, ist sodann doch deutlich anzufragen, ob die massenweise Übertragung der heiligen Messe liturgisch wünschenswert und ob sie überhaupt dogmatisch angemessen ist.

Wie die Beantwortung dieser Frage ausfällt, entscheidet darüber, ob man die Gläubigen in ihrer Gesamtheit wegen der Corona-Krise motivieren soll, als Andachtsübung Messübertragungen anzuschauen.

Einwand eines Thomaskenners und konservativen Denkers des 20. Jahrhunderts

Da ist es hilfreich, dass der Münsteraner Philosoph Josef Pieper (1904-1997) die Frage Zur Fernseh-Übertragung der Heiligen Messe seinerzeit 1953 schon aufgeworfen hat. Seine Antwort kann nicht im Verdacht stehen, von einer momentanen Ausnahme- oder Extremsituation manipuliert zu sein. Ferner ist die Antwort vorkonziliar und stammt von einem Denker, der schon damals als konservativ galt, Kritiker hätten gesagt: als altbacken. Doch für unsere Fragestellung ist dies ein Vorzug, denn solche, deren Selbstverständnis davon getragen und bestimmt ist, traditionstreue Katholiken zu sein, müssen sich angesichts von Piepers Antwort selbstkritisch fragen, ob es richtig ist, weit und breit die heilige Liturgie gewissermaßen zur Schau zu stellen und ob man nicht verzerrenden Kult-Ersatz statt Andachts-Übung anregt, wenn den Gläubigen auch noch empfohlen wird, in liturgischer Haltung, so als ob sie tatsächlich in der Kirche oder Kapelle zugegen wären, diesen Übertragungen zu folgen.

Pieper schreibt: „Was nun die Fernseh-Übertragung der heiligen Messe betrifft, so scheint sie mir einerseits bereits vorauszusetzen, daß der lebendige Sinn dafür, was eine ‚heilige Handlung‘ ist, entscheidend geschwächt ist; anderseits und vor allem wird durch solche Übertragungen diese Schwächung immer weiter, bis zur Unheilbarkeit, vorangetrieben.

Zum Wesen der heiligen Handlung gehört die Schranke gegenüber dem profanen Bereich, gegenüber Markt und Straße. Es ist aber gerade diese Schranke, die in der Fernseh-Übertragung der Mysterienfeier durchbrochen und zerstört oder vielmehr als gar nicht vorhanden erklärt wird – so daß der rechte Name für das, was hier geschieht, ‚Profanierung‘ ist. […]

Im Fall der ‚Fernsehmesse‘ […] wird die Schranke auf doppelte Weise zerstört; erstens versetzt die Übertragung das Bild der heiligen Handlung mit unvermeidlicher Wahllosigkeit mitten in den profanen Bereich, […], in ausnahmslos jede Situation des alltäglichen Lebens; zweitens dringt das Instrumentarium der öffentlichen Neugier und Langeweile in den Raum der heiligen Handlung ein“ (Pieper, J., Zur Fernseh-Übertragung der Heiligen Messe, in: Berthold Wald (Hrsg.), Josef Pieper – Werke in acht Bänden, Band 7, (Felix Meiner), Hamburg 2000, S. 487-490, hier: S. 487f.).

Indem der Begriff der Mysterienfeier auftaucht, könnte der Einwand lautwerden, Pieper sei hier von Odo Casel OSB (1886-1948) beeinflusst, dessen Theorie das Christentum analog den Kategorien eines paganen Mysterienkultes zu erfassen gesucht habe; ein Ansatz, der inzwischen allgemein als widerlegt gelte. Auch wer sagen wollte, die Vorstellung einer ursprünglichen Arkandisziplin sei eine romantisierte Stilisierung des frühen Christentums, sei darauf aufmerksam gemacht, dass Piepers Argument auf beide Voraussetzungen nicht angewiesen ist. –

Er entwickelt es philosophisch: „Nachdem allenthalben Klarheit darüber besteht, daß eine sakramentliche Teilhabe an der heiligen Messe durch eine Fernseh-Übertragung nicht zustandekommen kann, bleibt nur übrig, eine Erleichterung oder Intensivierung der ‚internationalen‘ [sic!, es muss offenbar richtig ‚intentionalen‘ heißen, Anm. C. V. O.] Teilhabe  anzunehmen. Diese Annahme aber erscheint höchst problematisch. Platon hat gesagt, schon die Schrift bedeute, obwohl sie ein Mittel der Fixierung und Aufbewahrung sei, dennoch eine Schwächung der menschlichen Erinnerungskraft. Und es ist eine längst erwiesene Tatsache, daß die technische Darbietung von ‚Seh-Stoff‘ die Intensität des Sehens in bedrohlichem Maße geschwächt hat […]. Es ist mehr als fraglich, ob die Fernseh-Übertragung der heiligen Messe in den Zuschauern durchschnittlicherweise eine Steigerung der inneren Teilnahme bewirkt und ob nicht der Kranke oder sonstwie Verhinderte,  die ja immer wieder als Beispiel angeführt werden, viel intensiver ‚teilnehmen‘, wenn sie durch Lesung der Meßgebete oder durch eine wirkliche innere Vergegenwärtigung die heilige Handlung mitvollziehen“ (a. a. O., S. 489, kursiv im Original).

Im Anschluss an Platon favorisiert Pieper die rein geistige innere Teilnahme sogar vor dem Lesen. Nun kann vom durchschnittlichen Gläubigen kein Gedächtnis oder eine solche Einübung in die heilige Liturgie erwartet werden, dass er gleichsam auswendig in und aus ihr lebt. Deswegen soll mit diesem Zitat von mir nichts gegen Schott oder Volksmissale eingewandt sein, wenn es auch möglich ist, mit den gleichbleibenden Teilen der heiligen Messe sehr weitgehend vertraut zu werden.

Virtuelle Messe während viraler Krise

Die Praxis des Corona-Streamings der heiligen Messe möchte ich dennoch kritisch hinterfragen, denn es scheint sich darin zu zeigen, dass allenthalben keine Klarheit mehr darüber besteht, welche Partizipation ihre Übertragung an der heiligen Messe gewährt oder vielmehr nicht erschließt: „Es ist eine vornehmliche Aufgabe der religiösen Erziehung, die Gläubigen zu solchem inneren Mitvollzug fähig zu machen. Von der anscheinenden ‚Erleichterung‘, welche die Fernseh-Messe bedeutet, ist dies Resultat nicht nur nicht zu erwarten; es ist im Gegenteil zu befürchten, daß sie gerade vereitelt werden könnte“ (a. a. O., S. 490).

Die Bildschirme von Fernsehapparat, Laptop oder Computer werden nicht durch geweihte Kerzen, die ringsum brennen, oder durch Blumenschmuck zum: Altar-Bild; das Wohnzimmer durch Heiligenfiguren, die den Fernseher umringen, nicht zum: Sakral-Raum.

Man bemühe sich um die Fähigkeit innerer Teilnahme und als Priester in der Seelsorge darum, diese Fähigkeit den Gläubigen zu vermitteln, damit sie krisenfest werden.

Spirituelle Souveränität – Rücksicht und konkreter Verzicht statt uneinsichtiges Beharren auf abstraktem Freiheitsrecht

Dass sie diese Fähigkeit weithin nicht mehr besitzen und Piepers Befürchtungen zutreffen, zeigt sich daran, wenn Gläubige meinen, nicht ohne Livestream der heiligen Messe sein zu können oder schlimmer, es sei nötig oder zumindest wirklich gut katholisch, mutwillig jetzt trotz Virus und Verbot doch zur heiligen Messe zusammenzukommen.

Nicht angebracht ist es ebenso, dieses ‚Recht‘ juristisch erstreiten zu wollen. Hätte man mit jeder Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus zugewartet, bis ihre Verfassungskonformität zweifelsfrei feststeht, hätten diese Maßnahmen unter dem Aspekt ihrer praktischen Effektivität niemals rechtzeitig ergriffen werden können. Schon dadurch sind sie gerechtfertigt, selbst dann, wenn sich im nachhinein ergeben würde, dass sie objektiv mit Grundrechten in Konflikt gestanden haben.

Geistige Teilnahme an der heiligen Messe steht stets offen, und es ist eine Fehlentwicklung, sich dazu von medialer Vermittlung abhängig zu machen. Es stellt ein Indiz und Symptom von Desakralisierung und Profanität dar, die das Heilige in sich aufsaugen; ist nicht Zeichen einer Sakralität, die Seelen und Welt durchformt, sondern Merkmal einer psychologischen Befangenheit, in die man sich begibt und die letztlich auf visuell-virtueller Reizüberflutung beruht.

Foto: Kelch – Bildquelle: C. Steindorf, kathnews

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