Rechtsanwendung muss geübt sein
Stuttgart (kathnews). In der Ausbildung von Studierenden des Kirchenrechts sind nicht nur Vorlesungen zu halten, sondern auch Übungen durchzuführen, die die Fähigkeit vermitteln, anhand von Rechtsfällen die in den Vorlesungen erworbenen theoretischen Inhalte konkret anzuwenden. Das gilt insbesondere für die Studiengänge für den Lizentiat und den Doktorat in Kirchenrecht (lic. iur. can; dr. iur. can.), die primär auf die Ausbildung und Qualifizierung für die Übernahme von Aufgaben und Ämtern in bischöflichen Behörden, d. h. der kirchlichen Verwaltung (Generalvikariat/Ordinariat) und Rechtsprechung (Kirchengericht/Offizialat) ausgerichtet sind.
Ãœbungsbuch zur Rechtsanwendung
Bislang fehlte im deutschsprachigen Raum für den kirchenrechtlichen Bereich ein geeignetes Übungsbuch für die Rechtsanwendung. Diese Lücke schließt nun ein von Burkhard Josef Berkmann, Professor für Kirchenrecht an der Ludwig-Maximilian-Universität München, und Marcus Nelles, Ehebandverteidiger am Erzbischöflichen Konsistorium und Metropolitangericht München, verfaßtes und im Stuttgarter Verlag W. Kohlhammer im Frühjahr 2019 herausgegebenes Buch mit dem Titel „Fälle zum katholischen Kirchenrecht. Übungsbeispiele mit Lösungen“. Die beiden Münchener Kanonisten wenden sich darin vor allem an Studierende in Theologie, Jura und kirchenrechtlichem Spezialstudium, aber auch an alle, die sich in der kirchlichen Gerichts- und Verwaltungspraxis einarbeiten.
Verschiedene Beispiele realer Fälle
In Berkmanns/Nelles´ neu erschienenem Übungsbuch findet sich eine Auswahl von Anwendungsbeispielen aus dem kirchlichen Gesetzbuch (CIC/1983), und zwar 7 Fälle aus den Allgemeinen Normen (Verwaltung, Grundrechte), 7 aus dem Buch „Volk Gottes“, 13 aus dem Eherecht (Ehenichtigkeitsfälle), 2 aus dem Strafrecht und 3 aus dem Prozessrecht. Bei der Wahl der Fälle ließen sich die Autoren von der „Relevanz im Studium und in der gegenwärtigen kirchlichen Praxis“ (Berkmann/Nelles, 9) leiten. Daraus erkläre sich, dass der größte Teil der Fälle das Eherecht betrifft, gefolgt von den Allgemeinen Normen und dem Verwaltungsrecht. „Ausgiebig Platz wird aktuellen Themen gewidmet wie den Grundrechten, der sogenannten ‚Laisierung‘ von Klerikern, der Umstrukturierung von Pfarreien und dem Strafrecht“ (Berkmann/Nelles, 9). Sogar der nicht selten sehr komplexe Fall der „Suppletion“ nach can. 144 CIC/1983, also der Ergänzung fehlender Leitungsvollmacht von Gesetzes wegen, den die Autoren unter die „exotischen“ Themen zählen (Berkmann/Nelles, 9), kommt im Übungsbuch zur Sprache. Konkret handelt es sich bei dem Fallbeispiel um eine fehlende Delegation für die Eheschließungsassistenz (Berkmann/Nelles, Fall 27, 147 ff.). Eheassistenz setzt zwar keine Leitungsvollmacht voraus, so dass in begründeten Ausnahmefällen mit Stellungnahme der Bischofskonferenz, der Erlaubnis des Heiligen Stuhles und der Zustimmung des Diözesanbischofs, der jeden Einzelfall zu prüfen hat (can. 1112), auch Laien einer Eheschließung als Amtszeugen assistieren können, doch ergänzt die Kirche von Rechts wegen unter den in can. 144 genannten Voraussetzungen fehlende delegierte Befugnis wie fehlende Leitungsvollmacht.
Aristoteles hilft
Die Rechtsanwendung in Rechtsprechung und Verwaltung, bei der es darum geht, den Normbefehl in einer konkreten Situation zu verwirklichen, erfolgt durch die Subsumtion (Unterordnung) des Sachverhaltes unter den Normtext mit Hilfe eines syllogistischen Dreischrittes. Da die Kenntnis dieses Schlussverfahrens nicht immer vorausgesetzt werden kann, ist es zu begrüßen, dass die Verfasser in der Einleitung ihres Übungsbuches diese zur Lösung eines Rechtsfalles unerlässliche Vorgehensweise vorstellen, indem sie das klassische, auf Aristoteles (Organon, Analytika protera) zurückgehende Schlussverfahren des Syllogismus mit seiner Unterscheidung von Obersatz (erste Prämisse mit Tatbestand und Rechtsfolge), von Untersatz (zweite Prämisse mit dem Sachverhalt) und schließlich der Schlussfolgerung (Konklusion aus der ersten und zweiten Prämisse, also dem Tatbestand, der Rechtsfolge und dem Sachverhalt) kurz und knapp, aber verständlich erläutern.
Aus dem syllogistischen Dreischritt ergibt sich die für alle im Übungsbuch behandelten Fallbeispiele konsequent durchgeführte Struktur: Nach der Darstellung des Sachverhaltes (im Syllogismus der Untersatz bzw. die zweite Prämisse) folgt die „auf den konkreten Fall zugeschnittene, kompakte, aber systematisch aufgeschlüsselte“ (Berkmann/Nelles, 10) Darstellung der Rechtslage (im Syllogismus die erste Prämisse) mit den Tatbeständen der Rechtsnorm und falls erforderlich kurzen Normerklärungen aus Doktrin und Rechtsprechung, ergänzt durch Anmerkungen der Autoren. Schließlich wird der Sachverhalt mit den für das Verständnis der Norm relevanten Tatbeständen „konfrontiert“ und der Rechtsfall durch Subsumtion, d. h. die Unterordnung des Lebenssachverhaltes unter die Begriffsmerkmale des gesetzlichen Tatbestands, einer Lösung zugeführt.
Fälle aus der Praxis
Dabei fällt auf, dass sich die von Berkmann/Nelles behandelten Fallbeispiele durch ihre Realitätsnähe auszeichnen. Denn „(a)lle Beispiele, die in dem Buch vorgestellt werden, beruhen auf Fälle, die tatsächlich geschehen sind und von kirchlichen Gerichten oder Verwaltungsbehörden behandelt werden“ (Berkmann/Nelles, 8), wie man auch den Hinweisen in einzelnen Fußnoten entnehmen kann.
Bei der Suche nach den im Übungsbuch behandelten Themen ist ein alphabetisch geordnetes Register von „Amtsbesetzung“ bis „Zwang“ sowie am Ende ein Kanonesregister sehr hilfreich, so dass der Nutzer bei Bedarf rasch ein Lösungsbeispiel findet.
Es ist zu wünschen, dass Burkhard Josef Berkmanns und Marcus Nelles´ „Fälle zum Katholischen Kirchenrecht. Übungsbeispiele mit Lösungen“ in der Ausbildung zukünftiger Kanonisten und von vielen, die mit der Anwendung von Recht in Rechtsprechung und Verwaltung täglich zu tun haben, tatsächlich genutzt wird.
Burkhard Josef Berkmann/Marcus Nelles
Fälle zum Katholischen Kirchenrecht. Übungsbeispiele mit Lösungen
Verlag W. Kohlhammer
Auflage 2019
ISBN 978-3-17-036167-6
29,00 €
Foto: Fälle zum katholischen Kirchenrecht – Bildquelle: Verlag Kohlhammer