Papst Franziskus bekräftigt Papst Benedikts „Hermeneutik der Reform“

Dokumentation und Kommentierung. Ein Beitrag von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 2. Februar 2021 um 22:24 Uhr
Papst Benedikt XVI.

Aus Anlass des sechzigjährigen Bestehens des Nationalbüros der Katecheten der Italienischen Bischofskonferenz hat der Heilige Vater am vergangenen Samstag, den 30. Januar 2021, den Katecheten eine Audienz gewährt und in seiner Ansprache bezüglich des Zweiten Vatikanischen Konzils gesagt:

„Dies ist das Lehramt: Das Konzil ist Lehramt der Kirche. Entweder Du bist aufseiten der Kirche und folgst daher dem Konzil, oder Du folgst dem Konzil nicht oder interpretierst es auf Deine eigene Weise, so wie Du es willst, dann bist Du nicht mit der Kirche.

In diesem Punkt müssen wir anspruchsvoll sein; streng. Das Konzil wird nicht verhandelt, um mehr als diese zu haben… [gemeint ist wohl, durch Zugeständnisse mehr Menschen zu gewinnen, seien es progressive oder konservative Zugeständnisse, Anm. C. V. O.] Nein, das Konzil ist so. Und dieses Problem der Selektivität in Bezug auf das Konzil, das wir erleben, hat es wiederholt im Laufe der Geschichte bei anderen Konzilien auch schon gegeben.

Mich lässt das an eine Gruppe von Bischöfen denken, die nach dem Ersten Vatikanischen Konzil fortgegangen sind, eine Gruppe von Laien, an Gruppen, die die ‚wahre Lehre‘ fortsetzen wollten, die nicht jene des Ersten Vatikanischen Konzils war: ‚Wir sind die wahren Katholiken.‘ Heute weihen sie Frauen.

Die ganz strenge Einstellung, den Glauben ohne das Lehramt der Kirche bewahren zu wollen, führt Dich ins Verderben. Bitte kein Zugeständnis an jene, die versuchen, eine Katechese vorzulegen, die nicht mit dem Lehramt der Kirche übereinstimmt.“[1]

Die Aussage ist in traditionalistischen Kreisen mit einer spürbaren Empfindlichkeit aufgenommen worden. Wenn man sie aber im Detail anschaut, zeigt sich, dass Papst Franziskus sich darin lediglich der Hermeneutik der Reform in Kontinuität anschließt, wie sie Papst Benedikt XVI. am 22. Dezember 2005 in einer ausführlichen Passage seiner damaligen Weihnachtsansprache an die Herren Kardinäle und die Mitarbeiter der Römischen Kurie entwickelt hat, die für diesen Ansatz: Hermeneutik der Diskontinuität oder des Bruches – Hermeneutik der Reform, berühmt geworden ist.

Verschiedene Hermeneutiken des Bruches sind denkbar

In seiner Darlegung erklärte Papst Benedikt vierzig Jahre nach dem Abschluss des Konzils, dass dessen Interpretation als Bruch nicht ein korrektes Verständnis und auch nicht eine authentische Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils vermittelt.

Nun stehe aber der authentischen Hermeneutik der Reform nicht nur eine einzige Bruchhermeneutik gegenüber.  Es gebe (zahlreicher) diejenigen, die das Konzil als Bruch mit der Vergangenheit, als Befreiungsschlag, bejubeln; die es zu einem völligen Neubeginn der Kirche machen wollten. Aber auch diejenigen, die dem  Konzil vorwerfen, mit der (Lehr-)Tradition der Kirche gebrochen zu haben, verträten zwar auf andere Weise, aber dennoch ebenfalls eine Hermeneutik des Bruchs statt der Kontinuität.

Versteht man die Aussage des regierenden Heiligen Vaters vor diesem Hintergrund, brauchen sich Katholiken, deren Selbstverständnis sich wesentlich über ihre Traditionstreue bestimmt, nicht unbedingt, jedenfalls nicht in erster Linie, angegriffen zu fühlen, denn der Hauptpunkt der Kritik liegt auf dem Phänomen der Selektivität, der Auswahl nach eigener Deutung und Präferenz oder Vorliebe ganz generell.

Konzilsdeutung nach eigenem Gutdünken und eigener Auslegung

 Wenn Papst Franziskus sagt, dass das Zweite Vaticanum Lehramt der Kirche ist, will er damit nicht sagen, dass sich das Lehramt der Kirche auf das letzte Konzil beschränkt, wohl aber, dass es als Ganzes zum Lehramt der Kirche gehört. Ausgeschlossen ist damit erstens, das Konzil als Zitatensteinbruch zu missbrauchen, indem man Texte, die einem ins Konzept passen, anführt und betont, andere jedoch verschweigt und unterschlägt. Zweitens schließt dies aus, dem Konzil die eigene Deutung zu geben, die seine lehramtliche Rezeption und Interpretation ignoriert oder ihnen widerspricht.  Diese Vorgehensweise begegnet vermehrt auf der progressiven Seite, war allerdings zweifelsohne oft ausschlaggebend für konservative Rufe nach Korrektur in der Umsetzung der Konzilsreformen, desweiteren für die oft fundamentale traditionalistische Kritik am Konzil.

Keineswegs ausgeschlossen wird eine Beschäftigung mit den Konzilstexten und mit der Frage nach ihrem korrekten Verständnis im Rahmen der Hermeneutik der Reform und als Bestandteil der kirchlichen Lehrtradition. Auch Nachfragen, wo einzelne Aussagen und Formulierungen sich nicht so reibungslos in diese Tradition fügen oder konkrete, damit begründete Änderungen fragwürdig erscheinen, bleiben prinzipiell möglich und sogar geboten.

Die wahre Lehre und die wahren Katholiken

Die Unverhandelbarkeit des Konzils, von der Papst Franziskus spricht, ist natürlich etwas, was die Priesterbruderschaft St. Pius‘ X. hellhörig werden lässt. Doch wieder ist zu sagen: Abgelehnt wird damit jede Selektivität und jede Bruchdeutung des Konzils, sei es nun die Deutung als Aufbruch ohne Rücksicht auf das Vorhergehende oder hingegen der Vorwurf an das Konzil und nachkonziliare Lehramt, mit der Tradition zu brechen oder ihr pauschal zu widersprechen.

Interessanter Bezug zum Ersten Vaticanum

Bemerkenswert ist, wie Papst Franziskus die wahre Lehre und die wahren Katholiken anspricht.  Dass es hier einen Unterton gibt, ist unverkennbar, aber Franziskus richtet ihn nicht gegen heutige Lefebvreanhänger oder andere Traditionalisten, sondern er erinnert an die späteren Altkatholiken. Sie beanspruchten beim und nach dem Ersten Vaticanum, in Kontinuität mit der wahren und ursprünglichen Lehre zu stehen, diese fortzuführen und sprachen: „Wir sind die wahren Katholiken.“ Dass der Papst fast lakonisch anfügt: „Heute weihen sie Frauen“,  zeigt mit einem Schuss Ironie, dass Franziskus die seinerzeitige Kritik am Ersten Vaticanum  heute nicht etwa nachvollzieht oder unterstützt  und dass er auch nicht beabsichtigt, seinerseits einer Frauenweihe den Weg zu bahnen. Es kann sich hier also eher ein Professor Hubert Wolf angesprochen fühlen, der bei aller berechtigten kirchengeschichtlichen Aufarbeitung seine Kritik am Ersten Vaticanum offensichtlich als Schubkraft ummünzen will, um  Neuerungen wie die Ordination der Frau voranzubringen, um bei diesem konkreten Beispiel zu bleiben. Auch insgesamt kann sich, das macht die Ansprache an Italiens Katecheten deutlich, niemand auf Papst Franziskus berufen, wenn man das Zweite Vaticanum (wieder) als Bruch und völligen Neuanfang lesen will, so als sei der auf Kontinuität setzende Deutungszugang Benedikts XVI. mit dem Pontifikatswechsel endgültig ad acta gelegt und ein für allemal überstanden.

Freilich auch aktuelle Mahnung

Wenn Papst Franziskus heutige Traditionalisten ins Auge fasst, dann geschieht das – wenn überhaupt –  gegen Ende seiner Bemerkungen zum Konzil, wo er eine „ganz strenge Einstellung“ anführt, die  „den Glauben ohne das Lehramt der Kirche bewahren“ will. Präziser und zutreffender wäre die Diagnose des Papstes hier gewiss gewesen, wenn er davon gesprochen hätte, man versuche den Glauben zu bewahren, indem man unter Berufung auf das frühere Lehramt das heutige und gegenwärtige Lehramt ablehnt oder zumindest tendenziell unter Generalverdacht stellt.

Der finale Satz freilich gilt wieder mehr allgemein, umfasst also auch die Tendenz zur progressiven Abweichung: Der Religionsunterricht, Katechese und Glaubensunterweisung müssen mit dem Lehramt der Kirche übereinstimmen. Und dabei ist bitte nicht zu übersehen, dass nicht bloß eine Übereinstimmung mit dem Zweiten Vaticanum gefordert wird, sondern eine Übereinstimmung mit dem gesamten Lehramt, das also als Einheit gesehen wird.

Man kann somit das Lehramt der Vergangenheit nicht gegen das Konzil ausspielen, um es abzulehnen; oder umgekehrt das Konzil als Gegensatz zum vorangegangenen Lehramt verstehen, von dem man sich abwendet. Genausowenig  ist es richtig, bloß noch das Zweite Vaticanum oder das Lehramt seither für maßgeblich zu halten.

[1] Italienischer Originalwortlaut: „Questo è magistero: il Concilio è magistero della Chiesa. O tu stai con la Chiesa e pertanto segui il Concilio, e se tu non segui il Concilio o tu l’interpreti a modo tuo, come vuoi tu, tu non stai con la Chiesa. Dobbiamo in questo punto essere esigenti, severi. Il Concilio non va negoziato, per avere più di questi… No, il Concilio è così. E questo problema che noi stiamo vivendo, della selettività rispetto al Concilio, si è ripetuto lungo la storia con altri Concili. A me fa pensare tanto un gruppo di vescovi che, dopo il Vaticano I, sono andati via, un gruppo di laici, dei gruppi, per continuare la ‚vera dottrina‘ che non era quella del Vaticano I: ‚Noi siamo i cattolici veri‘. Oggi ordinano donne. L’atteggiamento più severo, per custodire la fede senza il magistero della Chiesa, ti porta alla rovina. Per favore, nessuna concessione a coloro che cercano di presentare una catechesi che non sia concorde al magistero della Chiesa.“ Textquelle: Udienza ai partecipanti all’Incontro promosso dall’Ufficio Catechistico nazionale della Conferenza Episcopale Italiana (vatican.va). Die deutsche Übersetzung basiert auf einer Arbeitsübersetzung von Gero P. Weishaupt, wurde jedoch vom Autor dieses Beitrags sprachlich leicht überarbeitet.

Foto: Papst Benedikt XVI. – Bildquelle: Fabio Pozzebom/ABr

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