Neue Analogie zum Monophysitismus oder Catholic Amish People?

Parallelen, theologische Perspektiven und soziologische Prognosen.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 9. August 2012 um 12:11 Uhr
Petersdom
Ein Gastkommentar von Clemens Victor Oldendorf.

Sollten die Einigungsbemühungen der Priesterbruderschaft St. Pius X. mit Rom doch noch scheitern,  wird gewiss auch aufseiten des Heiligen Stuhls ein Bedürfnis der Rechtfertigung entstehen, die nicht zustande gekommene Einigung nicht nur formal, also mit dem Vorwurf einer schismatischen Haltung bei der Piusbruderschaft zu begründen. Die Ablehnung, die zuletzt vorgelegte Lehrmäßige Präambel vom 13. Juni 2012 zu unterzeichnen, könnte zwar nicht mehr nur als eine latent schismatische Tendenz, sondern – auch ohne neuerliche Bischofsweihen bei fehlendem Apostolisches Mandat oder gegen päpstliches Verbot – als der klare Ausdruck der konsequent vollzogenen Weigerung, sich der hierarchischen Struktur der Kirche ein- und unterzuordnen, ausgelegt und zum vollendeten, formellen Schisma erklärt werden.

Bloß materieller und deshalb steriler Traditionsbegriff als künftige Häresie?

Gerade aus Gründen der ökumenischen Glaubwürdigkeit, die natürlich nur unangefochten bestehen kann, solange Rom sich nicht nur um Überwindung bestehender Spaltung der Christenheit bemüht, sondern sich erst recht engagiert, neue Trennungen von der katholischen Kirche, von der Kirche Roms, zu vermeiden und vor allem nicht selbst zu provozieren, wird die Glaubenskongregation sich zweifellos bemühen, bei der Piusbruderschaft und ihren Gläubigen ein inhaltliches Motiv für die Trennung zu benennen und eine theologische Fehlhaltung, einen lehrmäßigen Irrtum oder direkt eine lefèbvrianische Häresie nachzuweisen. Wenn auch der Präsident des Päpstlichen Einheitsrates, Kurt Kardinal Koch, am 31. Juli 2012 in vergröbernder Argumentation bereits eine Parallele zwischen der Konzilskritik Luthers und derjenigen Lefèbvres ziehen wollte, wird man wohl kaum ein „sola traditione“ als Inhalt dieser Irrlehre angeben. Das wäre viel zu einfach und theologisch naiv gedacht.

Rufen wir uns aber das Motu proprio Ecclesia Dei afflicta mit seiner Nr. 4 ins Gedächtnis, wäre es eine wahrscheinliche Möglichkeit, dass man bei einem defizitären Traditionsbegriff ansetzt, von dem man sagen wird, dass er „den lebendigen Charakter der Tradition nicht genug berücksichtigt“. Das könnte der Fall sein, wenn die Piusbruderschaft unter der Tradition tatsächlich ausschließlich den Aspekt des inhaltlichen,  apostolischen Abschlusses der Offenbarung Jesu Christi verstehen würde und den pneumatischen Aspekt des Prozesses der Weitergabe dieses, in sich vollständigen, Inhalts in Lehramt und Glaubenssinn der jeweils aktuellen Kirche wirklich ganz übersehen oder aber prinzipiell und pauschal behaupten wollte, dieser pneumatische Beistand, der der Kirche ja während ihrer gesamten Geschichtsdauer verheißen ist, sei bei oder spätestens nach dem II. Vatikanischen Konzil grundsätzlich unterbrochen worden und nur durch entschiedene und vollständige Abkehr von den Lehren und Reformen dieses Konzils könne er wieder erlangt werden.

Aber dieser Nachweis kann für die Piusbruderschaft redlich nicht stringent geführt werden, nachdem ihr Generaloberer, Weihbischof Bernard Fellay, schon 2001 klargestellt hat, dass seine Gemeinschaft bei 95% der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils kein Problem sieht, zuzustimmen. Außerdem  hat die Piusbruderschaft nie die Haltung jener Traditionalisten geteilt oder auch nur in ihren Reihen geduldet, die die Legitimität der Konzilspäpste und der nachkonziliaren Päpste und Bischöfe bestreiten.

‚Pneumatische Unterbrechung’ als der eigentliche ekklesiologische Irrtum?

Die sogenannten Sedisvakantisten vertreten wohl in der Tat eine Theorie der „pneumatischen Unterbrechung“ mit und seit Vaticanum II, die schon nicht mit der Lehre der Heiligen Schrift, aber auch nicht mit dem Traditionsdekret des Konzils von Trient vereinbar ist. Insofern die Sedisvakantisten nur den Aspekt der materiellen Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der Offenbarung als die Tradition zu betrachten scheinen, das authentische Lehramt und den Glaubenssinn der Kirche seit Vaticanum II hingegen pauschal als de facto erloschen ansehen oder den Glaubenssinn nur noch bei sich selbst am Werke glauben, kann man den Sedisvakantisten den skizzierten,  defizitären Begriff  von Tradition vermutlich zu Recht zuschreiben. Angesichts der Zersplitterung des Sedisvakantismus zu rivalisierenden Kleinstgruppen oder überhaupt zu Home-aloners ist zudem gerade bei ihnen der sensus fidelium wahrscheinlich am allerwenigsten vorhanden.

Materiell ist die Offenbarung Jesu Christi als Apostolische Tradition vollständig und inhaltlich vollendet, als pneumatischer Prozess der Weitergabe ist sie jedoch authentisch in Lehramt und Glaubenssinn lebendig. Ein vollständiger, zutreffender Traditionsbegriff umfasst beide Aspekte: inhaltliche Vollständigkeit und apostolische Abgeschlossenheit oder besser: Vollendung, authentische, pneumatisch verbürgte Weitergabe dieses Inhalts als lebendiger Prozess, dessen Subjekt die Kirche in ihrem Lehramt und Glaubensinn permanent ist. Ein orthodoxer, rechtgläubiger, Traditionsbegriff muss dyoparadosal  (gebildet aus den altgriechischen Worten für die Zahl „zwei“ [Griechisch: dyo)  und für „Tradition/Überlieferung“ [Griechisch: paradosis] und mit dem Suffix „-al“ zum Eigenschaftswort gestaltet) sein.

Von diesem, von uns als rechtgläubig bestimmten, dyoparadosalen Verständnis von Tradition ausgehend,  soll die Begriffsbildung näher erläutert werden, damit sich nicht neue Missverständnisse des rechten Traditionsbegriffs ebenso, wie  über seine – anschließend einzuführende, traditionalistisch-häretische Verzerrung – einstellen. „Dyo-“ ist nicht etwa den zwei Quellen der Offenbarung geschuldet: Heilige Schrift und Tradition, wobei wir an das Verständnis des Konzils von Trient erinnern möchten, das ja insgesamt vier Modi unterschieden hat, in denen der Kirche, in ihr und somit durch die Kirche die Offenbarung tradiert und vergegenwärtigt wird.

„Dyo-“ nimmt vielmehr Bezug auf die beiden Aspekte der einen Tradition, der einen Paradosis. „Dyo-“ entspricht zum einen der inhaltlichen, apostolisch vollendeten und in diesem Sinne abgeschlossenen, Seite der Tradition, zum anderen ihrem lebendigen Charakter, den sie als Weitergabe logischerweise immer besitzen muss. Wir sprechen deshalb auch nicht von einem „dyoparadosen“ Standpunkt, so als ob es zwei Paradosen, zwei Traditionen, gäbe, sondern charakterisieren die rechtgläubige Position als „dyo-parados-al“, insofern die eine Tradition zwei Aspekte in sich vereint, zwei Eigenschaften hat: ihre inhaltlich abgeschlossene, apostolische Vollendung, die dem Gehalt der Offenbarung entspricht, sowie die zweite Eigenschaft der Lebendigkeit als Weitergabe. Diese Lebendigkeit ist auch nicht diejenige einer rein menschlichen Ãœberlieferung, sondern wird in der Kirche zuallererst vom Heiligen Geist selbst bewirkt, ist pneumatisch.

Eine traditionalistische Häresie könnte folglich entstehen, wenn der erstgenannte, inhaltliche Traditionsaspekt, der an sich gewiss zutreffend und sogar unerlässlich ist, isoliert und verabsolutiert wird. Was sich so ergeben würde, könnte man beispielsweise „anti-pneumatischen Monoparadosalitismus“ nennen. Eine solche Häresie kann man, wie gesagt, im Sedisvakantismus stark vermuten und muss sie als seine letzte Konsequenz befürchten; der theologischen Position der Priesterbruderschaft St. Pius X. aber würde dieser Vorwurf Unrecht tun. Das heißt leider nicht, dass es  innerhalb der Bruderschaft keine monoparadosalitischen Versuchungen und Strömungen gäbe, die vermutlich zu einer solchen Sichtweise tendieren oder dass sie faktisch von theologisch unreflektierten Gläubigen, die die Seelsorge der Piusbruderschaft in Anspruch nehmen, vertreten wird.

Realistisch muss man indes damit rechnen, Gläubige, die zumindest unbewusst eine solche Haltung – möglicherweise etwas gemildert – einnehmen, auch im Umfeld der Ecclesia-Dei-Gemeinschaften zu finden. Die monoparadosalitische Position ist aber in dieser abgeschwächten Form weit weniger theologisch begründet oder durchdacht, sehr viel eher psychologisch bedingt und Ausdruck einer vermutlich sogar ziemlich weit verbreiteten, allgemeinen Mentalitätstendenz traditionsverbundener Personenkreise.

Das entgegengesetzte Missverständnis des Modernismus: eine inhaltlich unvollendete, vitalistische Überlieferung

 Der lebendige Charakter der Tradition kann aber auch missverstanden werden, indem der zweite Aspekt zum Alleinstellungsmerkmal der Ãœberlieferung erklärt wird, in der Weise, dass man meint, die Offenbarung Jesu Christi sei inhaltlich nicht apostolisch abgeschlossen und vollständig, sondern die Offenbarungsgabe könne oder müsse sogar im Prozess ihrer geschichtlichen Weitergabe seitens der Kirche unter dem pneumatischen Beistand des Heiligen Geistes fortgesetzt angereichert werden oder auch –  in extremster Form als ständige Regeneration verstanden – vermeintlich veraltete Inhalte unablässig ausscheiden. Im Gegensatz dazu kann der in sich vollständige und in seiner Heilsrelevanz in Jesus Christus personal ausgerichtete Offenbarungszusammenhang in Wahrheit nie veralten, sondern ist in der Gestalt seiner Apostolizität bleibend vollkommen und in der Kirche pneumatisch gegenwärtig.

Durch Isolation und Absolutsetzung wird auch der zweite Traditionsaspekt verfälscht und leistet einer Ansicht Vorschub, die  analog zum traditionalistischen Monoparadosalitismus als modernistische Häresie aufzufassen wäre, die man treffend beispielsweise „pneumatistischen Traditionsvitalismus“ oder noch präziser:  „pneumatistischen Revelationsvitalismus“ nennen könnte. Man beachte hier, dass wir dieser Position nicht das Adjektiv pneumatisch zubilligen können, sondern sie pneumatistisch nennen müssen, um die Einseitigkeit anzudeuten, die zum Revelationsvitalismus führt, indem er unausgesprochen in letzter, logischer  Konsequenz von einer eigenen Offenbarung des Heiligen Geistes während der gesamten Geschichtsdauer der Kirche ausgeht, die neben der Offenbarung Jesu Christi stehen und diese komplettieren soll, vermeintlich ergänzen kann oder vielleicht sogar ergänzen muss.

Die griechische Vorsilbe „mia-“ bezeichnet eine komplexe Einheit aus zwei oder mehreren Aspekten, und zu ihrer Rechtfertigung werden pneumatistische Revelationsvitalisten vielleicht einwenden, sie seien gar keine solchen, sondern die beiden Aspekte der Tradition, nämlich ihre inhaltliche Vollendung und Vollständigkeit sowie ihre Lebendigkeit als Vorgang der Übermittlung, seien so untrennbar voneinander, dass sie eine innige, subtile Einheit bilden und die rechtgläubige Position genaugenommen daher kein pneumatischer Dyoparadosalitismus sein könne, sondern pneumatischer Miapradosalitismus sein müsse. Sie, die als pneumatistische Revelationsvitalisten Kritisierten, seien in Wahrheit gerade dies: pneumatische Miaparadosaliten.

Diese Erwiderung hat auf den ersten Blick etwas Gewinnendes, und man könnte sie richtig verstehen, doch liegt das Problem des Traditionsbegriffs ja gerade in der Tendenz, die beiden Aspekte der einen Tradition nicht ausreichend zu unterscheiden. Praktisch dominiert daher vermutlich schon längst ein wenigstens semi-pneumatistischer Revelationsvitalismus. Deswegen muss gerade heute nicht die Einheit beider Aspekte betont, sondern ihre formale, aber eben nicht bloß formale, Unterscheidung voneinander zum Ausdruck gebracht werden. Aus diesem Grund gilt der Einwand nicht und bleibt die Begriffsprägung des pneumatischen Dyoparadosalitismus berechtigt und einzig sachgerecht.

Kirchenväter als Konzilskritiker – ausreichender historischer Abstand als Bedingung gültiger Konzilswürdigung

Es ist Joseph Ratzinger gewesen, der bald in der unmittelbaren Nachkonzilszeit des II. Vaticanums  einen Beitrag „zur Ortsbestimmung von Theologie und Kirche heute“ zu leisten versucht hat.  Momentan ist dieser Beitrag als Epilog zu Ratzingers Theologischer Prinzipienlehre, die den Untertitel: Bausteine zur Fundamentaltheologie trägt, am leichtesten greifbar. Wir zitieren nach der Ausgabe der Prinzipienlehre, die 2005 im Münchner Verlag Wewel erschienen ist. Dort findet sich die „Ortsbestimmung“ auf den Seiten 381-411.

2012 begehen wir bald den 50. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils:

In seiner „Ortsbestimmung“ erwähnt Ratzinger die Konzilskritik eines Gregor von Nazianz etwa 50 Jahre nach dem Konzil von Nikäa, die dessen Freund und Weggefährte  Basilius von Cäsarea noch verschärft, und Ratzinger akzeptiert diese Einschätzungen als berechtigt,  um dann aus dem Abstand der Jahrhunderte anzuschließen: „Aus einer Art von makroskopischer Sicht der Geschichte, mit der wir von heute auf das Damalige schauen, muß man der Sicht der beiden Bischöfe widersprechen: Gerade die großen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts sind Leuchttürme der Kirche geworden, die den Weg in die Mitte der Heiligen Schrift weisen und, indem sie ihre Auslegung prägen, zugleich die Identität des Glaubens im Wandel der Zeit klären. Aber wenn das Urteil der Geschichte im ganzen anders ausgefallen ist, aus der Entfernung nur das Große beständig und umgekehrt das beständig Gebliebene groß erscheint, so sind die unmittelbaren Zeitgenossen offenbar doch immer wieder denselben Erfahrungen ausgesetzt gewesen, die diese Zeugen des Jahrhunderts der großen Grundentscheidungen ins Wort gebracht haben. Der makroskopischen Sicht steht sozusagen die mikroskopische, die aus der Nähe, gegenüber, und aus der Nähe gesehen kann man nicht leugnen, daß fast alle Konzilien sich zunächst als Erschütterungen des Gleichgewichts, als Faktoren der Krise ausgewirkt haben“ (Ortsbestimmung, S. 384).

Wenn wir das bedenken, dann ist die Situation nach dem II. Vatikanischen Konzil offenbar gar nicht ungewöhnlich, in Blick und Betrachtung der Kirchengeschichte vielmehr die neuerliche Bestätigung einer Art historischer Gesetzmäßigkeit oder des geschichtlichen Normalfalls. Das zeigt uns aber auch, dass heutzutage 50 Jahre nicht unbedingt ausreichen müssen, um aus der Entfernung das Große des II. Vaticanums bereits als beständig und sein beständig Gebliebenes schon als groß erkennen zu können. Mehr noch, ein Abstand von nur 50 Jahren reicht wahrscheinlich meistens gar nicht aus, sicher zu wissen und mit Gewissheit zu bestimmen, was an einem Konzil überhaupt beständig ist und unzweifelhaft beständig bleiben wird.

Piusbrüder als  ‚Monophysiten des 21. Jahrhunderts’?

Die von uns entworfene, mögliche traditionalistische Häresie eines anti-pneumatischen Monoparadosalitismus hat übrigens im Monophysitismus gegen das Konzil von Chalcedon eine historische Parallele und Analogie. Diese sieht auch Ratzinger in seiner „Ortsbestimmung“, wenn er schreibt: „Nicht anders ging es nach dem Konzil von Chalkedon, in dem mit der wahren Gottheit auch die wahre Menschheit Jesu ausgesagt wurde. Die Wunde, die damals entstand, hat sich bis heute nicht geschlossen: Die treuen Erben des großen Bischofs Kyrill von Alexandrien fühlten sich durch die Formeln verraten, die ihrer heilig gehaltenen Überlieferung entgegenstanden; als monophysitische Christen bilden sie im Orient noch heute eine bedeutende Minorität, die uns einfach durch ihr Dasein noch etwas von der Härte der damaligen Kämpfe ahnen läßt“  (ebd., S. 384f.).

Heute ist es weitgehend akzeptiert, dass die, wie Ratzinger sich ausdrückt, „treuen Erben des großen Bischofs Kyrill von Alexandrien“ in ihrer Christologie weitgehend missverstanden und in die Rolle von Häretikern gedrängt wurden. Es gibt freilich, wie wir aufgezeigt haben, mit den Sedisvakantisten tatsächlich anti-pneumatische, monoparadosalitische Traditionalisten. Die treuen Erben von Erzbischof Marcel Lefèbvre sind indes keine Monoparadosaliten. Wenn sie jetzt allerdings zu solchen abgestempelt würden, wäre die Gefahr groß, dass entsprechende, intern vorhandene Tendenzen sich als bestimmende Kräfte der Piusbruderschaft insgesamt bemächtigten oder jedenfalls die Mehrheit, die bis jetzt immer der sehr ausgewogenen Position des Generaloberen Bernard Fellay gefolgt ist, mit sich rissen.

‚Moderne’, katholische Amish People in den Katakomben

Würde das eintreten, so würde die Piusbruderschaft mit den Katholiken, die schon bisher ihre Gefolgschaft gebildet haben, erneut in Katakomben und in ein, vor allem soziologisch,  bedenkliches Ghetto abgedrängt werden, das sie mit der Zeit wohl zu einer Art Catholic Amish People werden lassen würde. Gerade unter Konvertiten, die in der Piusbruderschaft den katholischen Glauben angenommen haben oder unter Angehörigen der Generation, die den Katholizismus praktisch nie unter normalen, großkirchlichen Bedingungen kennengelernt, sondern aufgrund ihres familiären Hintergrundes immer schon ausschließlich in einer der typischen traditionalistischen Kapellen praktiziert haben, ist diese Tendenz längst zu beobachten, besonders stark freilich im angelsächsischen Raum und in den politisch motivierten Teilen des traditionalistischen Spektrums in Frankreich, jedoch keineswegs absolut darauf beschränkt, eben weil die Ausnahmesituation insgesamt und praktisch allerorten bereits viel zu lange andauert.

Wird sie jetzt nicht reguliert, sondern sogar zementiert, wird die psychologische Entfremdung vielleicht unumkehrbar. Man hat zurecht gesagt, dass das Pontifikat Benedikt’ XVI. einen Kairos bildet, um diese Gefahr zu bannen. Dieser Kairos scheint übrigens gleichfalls über das Schicksal der „Hermeneutik der Reform in Kontinuität“ (vgl. die Ansprache Benedikts XVI. an die Römische Kurie vom 22. Dezember 2005)  zu entscheiden. Bischof Fellay hat in seiner Wiener Predigt vom 20. Mai 2012 gesagt, der künftige Weg der Priesterbruderschaft St. Pius X. werde entweder ein Weg mit Rom sein oder er werde ein Weg gegen Rom werden. Beinahe 40 Jahre hat die Piusbruderschaft faktisch und praktisch einen außerordentlichen Weg ohne Rom beschritten. Einerseits ist jedenfalls Bernard Fellay kein Gallikaner und weiß daher, dass ein solcher Weg ohne Rom für einen Katholiken niemals, auch nicht durch lange Fortdauer, eine legitime Normalität werden kann. Der bisherige, merkwürdige Zustand der Schwebe mindestens seit 1976 kommt jetzt, so sagte es Fellay ebenfalls bei seiner gerade erwähnten Predigt und noch detaillierter bei einem anschließenden Vortrag in Wien, an ein Ende.

Die Piusbruderschaft ist katholisch und möchte es bleiben. Während aber ein vorübergehender, faktischer Weg ohne Rom eventuell einmal möglich und gezwungenermaßen sogar faktisch nötig sein kann und für die Bruderschaft in der Vergangenheit durch die Umstände vielleicht wirklich unumgänglich war, ist ein prinzipieller, dauerhafter oder sogar endgültiger Weg gegen Rom für den Katholiken niemals eine Option, sondern wäre ein gegen das Katholische gerichteter Widerspruch in sich selbst. Wird jetzt andererseits den Falschen die Häresie des anti-pneumatischen Monoparadosalitismus vorgehalten, kann sich die Situation ergeben, dass die Hermeneutik des Bruches das rechtgläubige dyoparadosale Traditionskonzept in der Gesamtkirche auf lange Sicht durch eine, bestenfalls semi-pneumatistisch abgemilderte,  revelationsvitalistische Vorstellung überlagert. Rechtgläubig würde diese Vorstellung dadurch nicht, aber sogar sehr wahrscheinlich für einige Zeit oberflächlich dominant.

Ob es danach jemals wieder leicht sein würde, eine lefèbrianische Spaltung, die wir jetzt noch mit relativ geringem Einsatz vermeiden können, zu überwinden und vor allen Dingen die Interpretation des II. Vatikanischen Konzils und des nachkonziliaren Lehramts harmonisch und konsequent in den dyoparadosalen Kohärenzzusammenhang apostolischer und kirchlicher Tradition einzubinden, muss lebhaft bezweifelt werden. Nochmals in aller Deutlichkeit und Entschiedenheit: Die Priesterbruderschaft St. Pius X. vertritt in ihrer relevanten, offiziellen Position den skizzierten, anti-pneumatischen Monoparadosalitismus nicht und hat diesen Standpunkt auch in der Vergangenheit noch niemals eingenommen!

Vorsicht: Liturgisch sensibel –  keine Liturgiereform light mit 50 Jahren Verspätung, bitte!

Würde dieser häretische, traditionalistische Überlieferungsbegriff  ihr jetzt zu Unrecht dennoch vorgeworfen, könnte sich auch für Gemeinschaften wie die Priesterbruderschaft St. Petrus und alle Gläubigen, die sich für ihr liturgisches Leben auf das Motu proprio Summorum Pontificum stützen, ein Rechtfertigungsdruck ergeben oder er könnte zumindest empfunden werden, sich vom vermeintlich lefèbvrianischen, anti-pneumatischen Monoparadosalitismus eindeutig abgrenzen zu müssen, um die eigene kirchliche Loyalität und rechtgläubige Katholizität unter Beweis zu stellen.

Mit dem Motu proprio Summorum Pontificum wurde zugleich im Begleitbrief an die Bischöfe in Aussicht gestellt, das Missale Romanum von 1962 aus seiner liturgiegeschichtlich wahrlich unnatürlichen Statik herauszuführen, indem es mittlerweile  kanonisierte neue Heilige in seinen liturgischen Kalender und auch die eine oder andere neue Präfation aufnehmen soll. Das wäre ein völlig normaler Vorgang, sogar wesentlich normaler als die jetzige, faktische Mumifizierung der überlieferten Liturgie seit 1962.

Doch muss man an dieser Stelle auf die Psychologie und Sensibilität des repräsentativen Traditionalisten hinweisen und davor warnen, dass die Kommission Ecclesia Dei oder die Gottesdienstkongregation erwägen oder versuchen könnte, den Ecclesia-Dei-Gemeinschaften oder anderen Priestern und Gläubigen, die das Motu proprio Summorum Pontificum für sich in Anspruch nehmen, über neue Heilige und Präfationen hinausgehende, rituelle oder rubrizistische Reformen, die die überlieferte Gestalt der römischen Liturgie näher an deren gegenwärtigen Usus ordinarius heranführen würden, verpflichtend aufzulegen.

Lumen Gentium und Sacrosanctum Concilium entfalten Theologie der Liturgie und vertiefen Eucharistielehre des Konzils von Trient

Nur wenn auf die genannte Mentalität oder Befindlichkeit auch weiterhin mit Feingefühl Rücksicht genommen wird, kann man das Ziel erreichen, dass die theologischen Leitmotive der Liturgiekonstitution des II. Vaticanums, von allen, die sich der liturgischen Bücher von 1962 bedienen, positiv verinnerlicht und in der konkreten Feier der Liturgie verwirklicht werden. Diese Leitmotive der Liturgiekonstitution sind dabei im Lichte der dogmatisch ausgerichteten Kirchenkonstitution Lumen Gentium zu verstehen und zu gewichten, welche lehrt: „Sooft das Kreuzesopfer, in dem Christus, unser Osterlamm, dahingegeben wurde (1 Kor 5,7), auf dem Altar gefeiert wird, vollzieht sich das Werk unserer Erlösung. Zugleich wird durch das Sakrament des eucharistischen Brotes die Einheit der Gläubigen, die einen Leib in Christus bilden, dargestellt und verwirklicht (1 Kor 10,17). Alle Menschen werden zu dieser Einheit mit Christus gerufen, der das Licht der Welt ist“ (LG 3).

Die eucharistietheologischen Grundsätze der Liturgiekonstitution finden sich insbesondere in Sacrosanctum Concilium Nrn. 5-10 und 47 und  betrachten die Strukturformung der rituellen Gestalt der Eucharistie in ihrem dogmatischen Gehalt, der somit für jede eucharistische Liturgie der Kirche gültig ist, als das Pascha des Neuen Bundes. Gegenüber dezidiert traditionsbetonten Katholiken muss man in diesem Zusammenhang herausarbeiten, dass bereits das Konzil von Trient diesen Deutungshorizont angibt (vgl. DH 1741). Da diese dogmatische Implikation in der Liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts vom Benediktiner Odo Casel mit seinem Ansatz vom Pascha-Mysterium, den Vaticanum II lehramtlich rezipiert hat (vgl. SC 5), belebt und in der Theorie der Mysteriengegenwart zusätzlich fruchtbar zu machen versucht worden ist, begegnen viele traditionsorientierte Theologen dem Pascha-Mysterium als Schlüssel-Motiv von Eucharistie und Liturgie mit einer teils akzentuierten Zurückhaltung.

Der Hinweis auf das Konzil von Trient, dessen Eucharistielehre Vaticanum II in LG 3 fortführt und vertieft (vgl. LG 1), sollte eigentlich geeignet sein, diese Skepsis zu zerstreuen. Dann kann erkannt werden, dass auch die überlieferte römische Liturgie ganz im Einklang mit den eucharistie- und liturgietheologischen Leitlinien der Liturgiekonstitution sowie mit der Lehre der dogmatischen Kirchenkonstitution über die Eucharistie und eigentlich sogar gar nicht anders gefeiert werden kann.

Reichtum der Heiligen Schrift als Ideal in der Liturgie und als weiteres Beispiel konkreter, liturgischer Behutsamkeit

Wenn man diese liturgische Rücksicht nimmt und theologische Hemmschwellen gegenüber dem Pascha-Mysterium als letztlich unbegründet überwindet, kann irgendwann eventuell auch daran gedacht werden, die überlieferte Perikopenordnung der biblischen Lesungen nach dem Vorbild des Usus ordinarius durch zwei weitere Lesejahre zu ergänzen und so dem Desiderat der Liturgiekonstitution zu entsprechen, den „Tisch des Gotteswortes“ reicher zu decken (vgl. SC 35,1 und 51). Wegen der engen Verwobenheit der klassischen Leseordnung des Usus antiquior mit den sonstigen Elementen seiner Messformulare und des Breviergebetes wäre diese Aufgabe allerdings eine liturgisch anspruchsvolle Herausforderung und sollten die beiden zusätzlichen Lesejahre auf alle Fälle stets fakultativ bleiben; die bestehende Perikopenordnung weiterhin jederzeit verwendet werden dürfen. Etwa die klassische Perikopenordnung kurzerhand als „tridentinisches Lesejahr A“ zu deklarieren und ansonsten einfach die Lesejahre B und C des Usus ordinarius zu übernehmen, wäre liturgisch – nicht zuletzt wegen der kalendarischen Unterschiede – in keinem Fall sinnvoll.

Würde man seitens der Kommission Ecclesia Dei oder der Gottesdienstkongregation die gerade angemahnte Rücksichtnahme und Sensibilität vermissenlassen  –  und nur deshalb wurde das Thema Liturgie hier eigentlich überhaupt angeschnitten – würde man zweifelsohne nahezu alle Priester und Gläubigen, die den Usus extraordinarius nicht nur aus Nostalgie oder oberflächlichem Ästhetizismus pflegen, sondern theologische Ãœberzeugungen und spirituelle Verankerungen damit verbinden, in die Arme echter Monoparadosaliten  treiben und so auch manchen, jetzt noch nur latenten, tendenziösen anti-pneumatischen Monoparadosalitismus zur Ausdrücklichkeit entschiedener häretischer Ãœberzeugung verschärfen.

Foto: Petersdom – Bildquelle: Radomil, CC

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