„Mensch, erkenne deine Würde“. Der Sinn von Weihnachten

Weihnachten ist mehr als bloße "Solidarität" Gottes mit uns Menschen. Aus einer Weihnachtspredigt von Papst Leo dem Großen mit einem Kommentar von Prof. Dr. Hans Reinhard Seeliger. Einleitung und Schluss (kursiv) von Gero P. Weishaupt.
Erstellt von Gero P. Weishaupt am 24. Dezember 2020 um 21:56 Uhr
Stern in der Geburtskirche

Vor einigen Tagen las ich auf der Internetseite einer Pfarrei den Satz: „Gott wird Mensch, damit wir Mensch werden.“ Das erinnerte mich an den bekannten Ausspruch des früheren Bischofs von Limburg Franz Kamphaus: „Mach‘ es wie Gott: Werde Mensch.“ Aber ist Gott Mensch geworden, damit wir Menschen werden? War das das Ziel der Menschwerdung, ist das der Sinn von Weihnachten?

Eine Verkündigung, die sich an der Heiligen Schrift, den Kirchenvätern, dem vierfachen Schriftsinn, der Tradition der Kirche und der Analogie des Glaubens orientiert, so wie das Zweite Vatikanische Konzil es in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum fordert (DV, 12), erblickt im Geheimnis der Menschwerdung Gottes eine andere Sinnrichtung, mehr also bloß den Umstand, dass Gott sich in Jesus Christus mit uns „solidarisiert“ hat. Damit ist das, was mit Menschwerdung und Erlösung gemeint ist, nicht erfaßt.

Den Glauben der Kirche faßt die Liturgie vom ersten Weihnachtstag bündig zusammen in der Collecta, dem Tagesgebet der heiligen Messe vom Weihnachtstage: „Allmächtiger Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt. Lass uns teilhaben an der Gottheit deines Sohnes, der unsere Menschennatur angenommen hat.“ Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlicht werden. Die Kirchenväter sprechen von der Vergöttlichung der Menschen (die Griechen von der theiosis, die Lateiner von der deificatio).  

Diese Oration atmet die Theologie Papst Leos des Großen. In einer Weihnachtspredigt, die sowohl im Breviarium Romanum, dem Brevier in der klassischen Römischen Liturgie, als auch in der Liturgia Horarum, dem erneuerten Stundenbuch (Brevier) der Kirche in der sog. ordentlichen Form des Römischen Ritus als Väterlesung am ersten Weihnachtstag zu lesen ist,   gibt Papst Leo der Große  Zeugnis von diesem „wunderbaren Tausch“ zwischen Gott und Mensch durch die Menschwerdung: Gott wird Mensch, damit wir Gott ähnlich, vergöttlicht werden. Lassen wir den Papst hier in einer deutschen Übersetzung zu Wort kommen (Quelle: Bibliothek der Kirchenväter). Seiner Weihnachtspredigt schließt sich ein Kommentar von Prof. Dr. Hans Reinhard Seeliger an, der von Juni 2001 bis zu seiner Emeritierung 2016 Professor war für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie an der Universität Tübingen.

„Christ, erkenne deine Würde!“ – Aus einer Weihnachtspredigt Papst Leos des Großen

„Laßt uns frohlocken, Geliebteste; denn heute ist uns der Heiland geboren! Darf doch dort keine Trauer aufkommen, wo das Leben selbst zur Welt kommt, das die Furcht vor dem Tode benimmt und uns durch die Verheißung ewigen Lebens mit Freude erfüllt. Niemand wird von der Teilnahme an dieser Jubelfeier ausgeschlossen, alle haben den gleichen Grund, in festlicher Stimmung zu sein; denn da unser Herr, der die Sünde und den Tod vernichtet, niemand findet, der ohne Schuld ist, so kommt er, um alle zu befreien. Es jauchze der Heilige, weil er sich der Siegespalme naht; es frohlocke der Sünder, weil ihm Verzeihung winkt, und neuer Mut belebe den Heiden, weil ihn das Leben ruft! Denn nachdem sich die Zeit erfüllt, welche die unerforschliche Tiefe des göttlichen Ratschlusses dazu bestimmte, nahm der Sohn Gottes die Natur des Menschengeschlechtes an, das wieder mit seinem Schöpfer versöhnt werden sollte, damit der Teufel, der den Tod in die Welt gebracht ,gerade durch die menschliche Natur, die er bezwungen hatte ,wieder bezwungen würde. In diesem für uns unternommenen Kampfe wurde der Streit nach dem erhabenen und bewunderungswürdigen Grundsatz der Gleichheit geführt, indem sich der allmächtige Herr mit dem so wütenden Feinde nicht in seiner Majestät, sondern in unserer Niedrigkeit mißt. Er stellt ihm den gleichen Leib entgegen und die gleiche Natur, die zwar wie die unsrige sterblich, aber frei von jeder Sünde ist. Gilt doch von seiner Geburt nicht, was von der aller zu lesen steht: „Niemand ist rein von dem Schmutze der Sünde, nicht einmal das Kind, dessen Lebenshauch nur einen Tag auf Erden währt“.

Keinerlei Makel ist auf diese Geburt, die nicht ihresgleichen hat, von der Begierlichkeit des Fleisches übergegangen, keinerlei Schuld von dem Gesetze der Sünde auf sie entfallen. Eine königliche Jungfrau aus dem Stamme Davids wird dazu auserwählt, die heilige Frucht in sich aufzunehmen und Gottes und der Menschen Sohn zunächst im Geiste und dann in ihrem Schoße zu empfangen. Und damit sie nicht, unbekannt mit dem himmlischen Ratschlusse, über eine so ungewöhnliche Wirkung erschrecke, erfährt sie durch die Unterredung mit dem Engel, was in ihr der Heilige Geist wirken sollte. Auch glaubt die nicht an Verlust der Jungfräulichkeit, die bestimmt ist, bald „Gottesgebärerin“ zu werden. Denn warum hätte sie in diese neue Art der Empfängnis Zweifel setzen sollen, da ihr die Macht des Allerhöchsten dies zu vollbringen verspricht? Gestärkt wird ihr gläubiges Vertrauen auch noch durch das Zeugnis eines vorausgehenden Wunders: Der Elisabeth, die nicht mehr darauf hoffen konnte, wird Kindersegen verliehen, damit man nicht daran zweifle, daß derjenige, der einer Unfruchtbaren die Kraft zu empfangen gegeben hatte, auch eine Jungfrau empfangen lassen würde.“

Kommentar von Prof. Dr. Hans Reinhard Seliger

„Die Predigten zum Weihnachtsfest sind heute oftmals beherrscht von einer etwas schmalbrüstigen Auslegung des theologischen Zentrums dieses Festes der Menschwerden Gottes. Die Inkarnation wird nicht selten recht einlinig betrachtet und deshalb in ihren Konsequenzen kaum ausgedeutet. Gedacht wird daran, dass Gott unter ungünstigen Umständen Mensch geworden ist; er wurde ein Kind, armselig wie die Menschenbabies  nun einmal sind, der Nachwuchs einer Gattung, die notwendig viel Brutpflege braucht. Dass Gott so Mensch geworden ist, ist freilich, wie uns Leo der Große eindrücklich belehrt, nur die eine Seite. Wer hier stehen bleibt, verschweigt die Sinnspitze von Weihnachten und bleibt nicht selten im Rührseligen stecken.

Die andere Seite davon ist, dass dies geschah, damit der Mensch nun Anteil habe an Gott. Basilius der Große (gest. 379) drückt das einmal ganz drastisch aus: Das höchste Ziel unserer Erlösung ist es, ‚Gott zu werden‘ (vgl. ‚Über den hl. Geist‘ IX, 23). Die Inkarnation, das Festgeheimnis von Weihnachten, ist ein sacrum commercium, ein heiliger Tausch: Gott wird Mensch, damit der Mensch die Möglichkeit erhält, Gott ähnlich zu werden.

Dieser zentrale Gedanke der antiken Theologie, ohne den Text  Leos d. Gr. unverständlich bleibt, mag dem modernen Menschen einigermaßen fremd vorkommen, vielleicht sogar ein wenig blasphemisch; wer will schon ‚Got ähnlich werden‘? Unter den vielen Idealen christlicher Religion, die auf unsere Zeitgenossen oft unzeitgemäß wirken, scheint die Zielvorgabe unserer Vergöttlichung‘ (so hat es die griechische Theologie in der Tat ausgedrückt, wenn sie das Gott-ähnlich-Werden und das Anteil-an-ihm-Gewinen meinte) die anachronistischste zu sein.

Und doch; ‚den  alten Menschen abzustreifen‘ und ‚den neuen anzuziehen‘ (Eph 4, 22-24), das wäre nicht möglich ohne die Menschwerdung Gottes. Die Menschwerdung machte die Menschennatur wieder lebendig, als sie schon tot war. Die Geburt Jesu war deshalb de Beginn der neuen Schöpfung. In der Inkarnation Gottes steckt seitdem die explosive Kraft der Befreiung der alten Menschennatur von ihren Defiziten, weil jene in der Gestalt des Menschgewordenen einmal und grundsätzlich repariert worden ist. Er aber will daraufhin uns heil machen, indem er sakramental in uns wohnt, will mit seiner heilen Natur unsere beschädigte durchdringen, uns kurieren, stark machen, an sich heranziehen, ihr Anteil an seiner Göttlichkeit geben.

Das ist das Geheimnis des Weihnachtsfestes in der Vorstellung Leos. Das alles ist es, was im Kind der Maria grundgelegt ist. All das ist gar kein Anlass für Sentimentalität und Gefühlsduselei. Das alles ist, theologisch betrachtet, wie Leo es tut, eigentlich ein geradezu erschreckendes Ereignis von weltgeschichtlicher Dramatik: ein Wendepunkt, kein Genrebild!“ (Hans Reinhard Seeliger, Hora lectionis. Die Festlesungen der alten Theologen aus dem Stundenbuch der Kirche, Regensburg 1991, 20 ff.).

Mehr als bloße „Solidarität“

„Gott wird Mensch, damit wir Menschen werden.“ und „Mach‘ es wie Gott: Werde Mensch.“  Das stimmt nur dann, wenn man bedenkt, dass Erlösung mehr ist als bloße göttliche „Solidarität“, wenn man bedenkt, dass die Menschennatur durch die Erbsünde verdorben ist. Wahres Menschsein ist nur in Christus möglich. Wahres Menschsein ist erlöstes Menschsein, ist durch Christus wiederhergestelltes Menschsein. Die Gotteskindschaft wird geschenkt durch die Vergöttlichung der Menschen, durch dessen Teilhabe an der göttlichen Natur.  Dazu ist Gott auf die Welt gekommen. Gott wurde Mensch, um uns zu vergöttlichen, damit wir (wieder) Menschen werden nach dem Bilde Gottes. O sacrum commercium. O heiliger Tausch: Gott wurde Mensch, damit wir Kinder Gottes werden. Das ist der tiefste Sinn von Weihnachten. Sie ist der Grund für recht verstandenes Menschsein, von der uns geschenkten Würde, von der Papst Leo in seiner Predigt spricht. Gott wird Mensch, damit wir – durch die Menschwerdung Gottes wiederhergestellt – Menschen werden. Gott kommt zu uns, nicht um uns hier stehen zu lassen, sondern in seine Herrlichkeit heimzuholen. Darin zeigt sich die wahre „Solidarität“ Gottes. Nur vor diesem theologischen Hintergrund kann man den am Anfang zitierten Aussagen zustimmen. 

Foto: Stern in der Geburtskirche – Bildquelle: Michael Hesemann

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