Mehrfache Rollen rückwärts

Eine Buchbesprechung von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 4. Januar 2022 um 23:28 Uhr

Es fällt ziemlich schwer, die Motive zu verstehen, die den Renovamen-Verlag bewogen haben, mit dem Buch Tradition und lebendiges Lehramt Ende vergangenen Jahres ausgerechnet jetzt[1] die deutsche Übersetzung einer Schrift als Neuerscheinung zu präsentieren, deren portugiesisches Original – wie sich aus inneren Kriterien schließen lässt – circa 2006 erschienen sein muss. Ihr Verfasser ist Bischof Fernando Rifan, der der Apostolischen Administratur vom Heiligen Pfarrer von Ars als Ordinarius vorsteht, deren Territorium mit demjenigen des brasilianischen Bistums Campos übereinstimmt und der die liturgischen Bücher des Römischen Ritus wie er – so muss man es nach Traditionis Custodes wohl formal korrekt und präzise formulieren – 1962 in Kraft war, als Eigenritus zugestanden wurde.

Der Übersetzer ist der in der niederländischen Diözese Roermond inkardinierte deutsche Priester Paolo D‘Angona, sein Name verrät teilweise italienische Wurzeln, der in Würselen bei Aachen praktisch als Kommorant lebt. Dies hat ihm offensichtlich den nötigen Freiraum verschafft, der Übersetzungsarbeit große Sorgfalt zu widmen. So ist ein der Originalfassung sehr getreuer Text entstanden, der auch im Deutschen überaus gelungen, über weite Strecken sprachlich und stilistisch sogar geschmeidig elegant ist, so dass man ihn mit Vergnügen und entsprechend zügig lesen kann.

Von einem Vorwort des deutschen Kurienkardinals Gerhard L. Müller und einem nicht einmal drei Seiten umspannenden Nachtrag zu Traditionis Custodes abgesehen, wurde jegliche Aktualisierung des Textes versäumt.

So ist das Buch im günstigsten Falle ein Zeugnis und Dokument der Stimmung und Erwartungshaltung vieler konservativer und traditionsverbundener Kreise in der Phase des Anfangs des Ratzinger-Pontifikates. Drei Bespiele mögen dies illustrieren: Seite 20 ist davon die Rede, Papst Benedikt XVI. habe „soeben“ mit Summorum Pontificum „der überlieferten Form der Meßfeier weltweit die Freiheit geschenkt“, während tatsächlich Papst Franziskus es ist, der soeben diese Freiheit mit Traditionis Custodes weltweit zurückgenommen hat. In Bezug auf die Instruktion Donum veritatis aus dem Jahre 1990 heißt es auf Seite 42, diese habe „unlängst“ eine grundlegende Loyalität gegenüber dem Lehramt „in Erinnerung gerufen“. Wüsste man nicht, dass Kardinal Ranjith seit Sommer 2009 Erzbischof von Colombo ist und opportunistisch übrigens mittlerweile jedes Engagement zugunsten der überlieferten Liturgie oder einer traditionsorientierten Ars celebrandi im nachkonziliaren Gottesdienst längst eingestellt hat, jedenfalls nicht mehr artikuliert, dächte man nach der Lektüre, er sei „vor kurzem“[2] zum Sekretär der Gottesdienstkongregation ernannt worden. Das war jedoch am 10. Dezember 2006 der Fall.

Es ist ein verlegerischer Mangel, wenn derartige Dinge bei einer so stark verzögert erscheinenden Übersetzung gleich welchen Buches nicht aktualisiert und unkommentiert belassen werden. Was er in anderen Zusammenhängen durchaus tut, wäre dem Übersetzer auch in solchen Fällen möglich gewesen, nämlich zumindest eine eigene Fußnote ergänzend zum Originaltext des Autors einzuflechten.

In mehrfacher Hinsicht anachronistisch

Diese mehr äußerlichen Schwächen der deutschen Version bilden aber nicht den gravierendsten Mangel von Tradition und lebendiges Lehramt. Denn nicht nur, dass der Eindruck erweckt wird, man befinde sich weiterhin in einem Klima der Hoffnung auf eine Reform der Reform oder der Hermeneutik der Reform in Kontinuität bei der Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils, wie sie von Benedikt XVI. beim Weihnachtsempfang am 22. Dezember 2005 den Herren Kardinälen vor Augen gestellt wurde – nein, selbst der positivste Optimist sieht inzwischen, dass diese Ansätze selbst während des vergangenen Pontifikats Benedikts XVI. nie konkret und wirkungsvoll umgesetzt wurden und jetzt, im Bereich der Liturgie spätestens seit Traditionis Custodes, unmissverständlich ausradiert sind.

Zutreffende Wahrnehmungen und Argumente

Dabei soll nicht gesagt sein, dass jedes Argument oder jede Beobachtung Bischof Rifans falsch oder verfehlt wäre. So gibt es zweifelsohne die traditionalistische Tendenz, einander immer noch übertreffen zu wollen in der strengeren oder extremeren Position oder auch in der noch älteren Version des tridentinischen Ritus, der man folgt.[3] Ebenfalls gibt es die reale Gefahr einer Radikalisierung und Verbitterung, die so weit führen kann, dass jemand jede Glaubenspraxis aufgibt oder sogar den Glauben ganz verliert.[4] Allerdings ist es fragwürdig, ob man, wie Rifan es tut, jedem, der zum Beispiel die Position des Sedisvakantismus oder Sediprivationismus einnimmt oder für eine mögliche theologische Position hält (Rifan differenziert zwischen beiden Varianten nicht), deswegen vorwerfen kann, extrem oder radikal zu sein.

Der Sedisvakantismus ist eine theologische Theorie und Meinung, die von der jetzigen Bischof Rifans und von derjenigen beispielsweise der Petrusbruderschaft abweicht und sich auf der anderen Seite auch von der Position der Piusbruderschaft unterscheidet. Sie ist eine andere Position, ein anderer Versuch, das Problem der aus Sicht aller katholischen Traditionalisten bestehenden nachkonzilaren Krise seit dem Zweiten Vaticanum zu verstehen, zu erklären und damit alltäglich umzugehen; es letztlich vor allem in der Praxis zu lösen. Automatisch extrem oder fanatisch sind Sedisvakantismus und Sediprivationismus damit nicht, und es gibt vor allem in den USA einige Theologen und Bischöfe, die diese Positionen durchaus sachlich, moderat und sogar konziliant vertreten, ohne jede Gefahr, zu verbittern. Darauf wird hier deshalb hingewiesen, nicht um selbst diese theologischen Meinungen per se zu befürworten oder gar als Rezensent selbst zu beziehen.

Nur die Schlussfolgerungen unterscheiden sich

Vielmehr geschieht diese Betonung aus dem Grunde, dass Bischof Rifan auffällig denselben Lehramtspositivismus vertritt und derselben, ultramontanen Engführung einer bestimmten Strömung neuscholastischer Theologie des 19. Jahrhunderts folgt, die etwa bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Rom leitend geblieben ist und derentwegen die Sedisvakantisten, indem sie sie besonders stringent durchführen, zu ihrer Schlussfolgerung gelangen. Während diese meinen, deswegen könnten die nachkonziliaren Päpste keine rechtmäßigen Päpste sein oder jedenfalls die Autorität eines legitimen Papstes nicht wirksam und verbindlich ausüben, meint jener in einer gewissen Überdehnung, fast schon Apotheose des Papstes, wie sie im 19. Jahrhundert nicht unüblich war und auch von Theologen rezipiert wurde, weil sie ja Päpste seien, könne es im Zweiten Vaticanum und im nachkonziliaren Lehramt sowie in der Liturgiereform Pauls VI. quasi automatisch nichts zu beanstanden geben.

In diesem Sinne zitiert Rifan durchwegs zustimmend und ausschließlich vorkonziliare Theologen bis hinauf zum unmittelbaren Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils, die allerdings Art und Umfang der nachvatikanischen Liturgiereform Pauls VI. nicht kennen und sich womöglich aufgrund einer ultramontanen Befangenheit auch niemals eine vom Papst initiierte und autorisierte Entwicklung wie mit und nach dem Zweiten Vaticanum ausmalen konnten.[5] Aus der Erfahrung seither wird deutlich, wie wichtig es ist, insbesondere den Jurisdiktionsprimat des Papstes, aber auch seine individuelle, persönliche Unfehlbarkeit im Kontext der größeren Tradition und theologischen Bemühung zu verstehen, welche jahrhundertelang und nicht nur unmittelbar dem Ersten Vatikanischen Konzil vorausgegangen sind. Das gilt natürlich nicht nur in Erwiderung auf Rifan, sondern ähnlich für viele andere, die mit bisweilen recht gegensätzlichen Konsequenzen dazu neigen, sich in eine vermeintlich heile Welt der Pontifikate Pius‘ XII. und Pius‘ X. flüchten zu können.

Warum wurde und wird überhaupt an der überlieferten Liturgie festgehalten?

Ein weiterer Schwachpunkt einer solch formalistischen, positivistischen Argumentation, die Rifan vorträgt, ist, dass sie ausblendet, dass die Römische Liturgie in der Gestalt, die Paul VI. ihr gegeben hat, ja in aller Regel nicht anhand ihrer Editio typica gefeiert wird, womit nicht gesagt werden soll, in der lateinischen Fassung, am Hochaltar, mit männlichen Ministranten und der klassischen Form des Kommunionempfanges sei der „erneuerte“ Messritus bereits makellos. Die real existierende Liturgie ist zudem sehr verschieden von dem, was man vielleicht eine theoretische Liturgie Pauls VI. nennen könnte. Eine solche Diskrepanz bestand bei den vorkonziliaren liturgischen Büchern niemals, von denen die vorkonziliaren Stimmen, auf die Rifan sich beruft, für ihre Überlegungen ausgegangen waren und die er jetzt einfach auf die Liturgiereform Pauls VI. von 1969 überträgt. Wäre der Autor übrigens wirklich konsequent, müsste er einräumen, dass es folglich keinen Raum gäbe, die alte Liturgie vorzuziehen oder aufgrund einer Vorliebe beizubehalten. Dann müsste er längst schon mit seiner Apostolischen Administratur dazu übergegangen sein, immerhin die Editiones typicae der nachkonziliaren liturgischen Bücher, meinetwegen in deren konservativster Interpretation und gottesdienstlichen Anwendung, zu benutzen. Und jeder, der der Argumentation Rifans beipflichtet oder nicht entschieden widerspricht, müsste das ebenfalls so akzeptieren.

Eigentlich müsste er noch weiter sich öffnen, wenn Kardinal Müller zuzustimmen wäre, der im Vorwort schreibt: „Einem echt katholischen Denken muß es daher absurd erscheinen, daß sich an den beiden Formen der einen Messe, die sich nur in einigen äußeren Riten, – inklusive der nicht zur [sic!] ihrer Substanz gehörenden Zelebrationsrichtung und Zelebrationssprache in Latein oder der Volkssprache – unterscheiden, ein Streit um die dogmatische Wahrheit entzündet.“[6] Dieses Vorwort war schon veraltet, als es am 4. November 2021 geschrieben wurde, denn nach Traditionis Custodes gibt es keine zwei Formen mehr, und vor Summorum Pontificum gab es zwar viele Varianten Gregorianisch-Lateinischer Liturgie in der Westkirche, nicht aber einen ordentlichen und einen außerordentlichen Usus des Römischen Ritus, die sich so stark voneinander unterschieden wie einerseits der römisch-tridentinische und andererseits der nachvatikanisch-paulinische Ritus, der nunmehr als alleiniger Ausdruck der lex orandi im Römischen Ritus festgelegt ist.

Eine abstrakt-theoretische Konzilsinterpretation als Form der Realitätsverweigerung

Ganz ähnlich wirklichkeitsfremd verhält sich Bischof Rifan nicht nur in puncto seines fast zwanghaften Rechtfertigungsdrucks hinsichtlich der nachkonziliaren Liturgiereform, von der seine Apostolische Administratur aber bis jetzt prinzipiell ausgenommen bleibt, sondern auch hinsichtlich des Umgangs mit den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils[7]. Was nützt es, wenn eine Hermeneutik der Kontinuität zwar in vielen Fällen möglich ist, auch vom Lehramt hier und da mit Dokumenten gestützt wird (oder wurde), wenn „die kirchliche Öffentlichkeit […] sich z.T. [realistischer wohl: dominant, Anm. C. V. O.] von modernistischen Interpretationen oder protestantischen Meinungsäußerungen beeindrucken [hat] lassen“[8] und weiterhin diese Interpretationen die praktisch vorherrschenden bleiben? Eben auch nicht viel mehr als ein theoretischer Ritus Pauls VI., wie wir ihn eben skizziert haben, wenn es ihn praktisch nirgendwo gibt – und der außerdem die Verluste und Defizite, die ihm, verglichen mit dem tridentinisch kodifizierten Gregorianischen Ritus, immer noch innewohnen, nur verstecken würde.[9]

Ein einzelner positiver Aspekt des Buches und ein möglicher, positiver Effekt

Natürlich ist das Lehramt lebendig, und ein Vorteil des hier doch sehr kritisch vorgestellten Buches ist, wenn es im Titel von lebendigem Lehramt[10] spricht und nicht vom lebendigen Charakter der Tradition[11].Wer also die amtierenden Päpste und Bischöfe als legitim anerkennt, der kann schlecht prinzipiell alles, was sie seit einem bestimmten Zeitpunkt lehren und anordnen, kritisieren und grundsätzlich für sich und sein Umfeld ausblenden oder ignorieren.[12] Hätte aber Bischof Rifan recht, so wäre jede traditionalistische Reaktion auf das Zweite Vatikanische Konzil und insbesondere auf den neuen Messritus von 1969 von Anfang an illegitim, ja, der Eintritt einer solchen Krise, wie sie die Traditionalisten wahrnehmen, von vornherein durch den Beistand des Heiligen Geistes ausgeschlossen gewesen. Dass nichts in der Kirche ausgeschlossen und unmöglich ist, sieht man spätestens jetzt mit Traditionis Custodes und Papst Franziskus, der allerdings damit lediglich zur ursprünglichen Situation nach dem Zweiten Vaticanum und nach Einfürung des paulinischen Novus Ordo Missae zurückkehrt.

Wenn das Buch Tradition und lebendiges Lehramt in der Form, in der es im gegenwärtigen Moment in deutscher Übersetzung vorgelegt wird, für die Kirche einen Sinn haben und einen Nutzen erbringen soll, dann ist es die Einsicht, dass verschiedene Rollen rückwärts nichts bewirken: Weder kann man gedanklich im Pontifikat Benedikts XVI. und in den Projektionen und Hoffnungen verbleiben, die sich in diesem Pontifikat nicht erfüllt haben, noch die Rolle rückwärts, die Papst Franziskus in die unmittelbare Nachkonzilszeit machen und vorschreiben will, beantworten, indem man selbst eine ultramontane Rolle rückwärts in einen überzogenen Lehramts- und Papstoptimismus vollführt, der nur eine recht kurzfristige Phase und Strömung gewesen ist. Die Erfahrung der unmittelbaren Nachkonzilszeit und das spontane Festhalten insbesondere an der liturgischen Überlieferung haben diese Strömung intuitiv bereits damals als nicht zutreffend und die Tradition nicht weiterführend erwiesen. Diese Einsicht bleibt auch jetzt und in Zukunft gültig. Möglicherweise wird sie sogar deutlicher vor dem Kontrast der Ausführungen Bischof Rifans, ansonsten wäre die Lektüre entbehrlich, denn auch die Stellungnahme zu Traditionis Custodes[13] ist schwach und enttäuschend.

Bibliographische Angaben und Bestellmöglichkeit: Bischof Fernando Arêas Rifan: Tradition und lebendiges Lehramt | Renovamen-Verlag.

[1]Als Erscheinungsjahr für die deutsche Ausgabe/erste Auflage ist 2022 angegeben, tatsächlich ausgeliefert wurde das Buch aber schon Ende 2021.

[2]Rifan, F., Tradition und lebendiges Lehramt. Pastorale Wegweisung, Bad Schmiedeberg 2022, S. 54.

[3]Vgl. ders., ebd., S. 72, wo der bischöfliche Autor zustimmend Pater Didier Bonneterre FSSPX zitiert.

[4]Vgl. ders., ebd., S. 74, Anm. 92.

[5]Vgl. ders., ebd., S. 82-85.

[6]Vgl. Vorwort Kardinal Müllers, ebd., S. 11-18, hier: S. 14.

[7]Vgl. Rifan, F., ebd., S. 94-104, passim.

[8]Vgl. ders., ebd., S. 80.

[9]Es wäre hier auch einmal konsequent die ursprünglich moderate Liturgieform bis 1965 von der anschließenden, nachvatikanisch-paulinischen zu unterscheiden.

[10]Bischof Rifan bezieht sich hier auch korrekt auf das Zweite Vatikanische Konzil und DV 10, vgl. Rifan, F., Tradition und lebendiges Lehramt (wie Anm. 2), S. 33, Anm. 19.

[11]Wie es, den Konzilstext weiterspinnend, im Motu Proprio Ecclesia Dei geschehen ist, wobei man sich in ED 4 und 5b fälschlich auf DV 8 berufen hat.

[12]Vgl. hierzu den gutgewählten Vergleich mit Wegweiser und Weggefährte, Rifan, F., Tradition und lebendiges Lehramt (wie Anm. 2), S. 27f.

[13]Vgl. ders., ebd. S. 148-150.

Foto: Tradition und lebendiges Lehramt – Bildquelle: Renovamen-Verlag

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