Liceitas und ein zugleich ultramontanes und gallikanisches Erbe

Ein Kommentar von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 16. September 2012 um 22:14 Uhr
Alte Messe

Die erste BeschĂ€ftigung mit dem Begriff der Liceitas hat bereits klargestellt, dass er nicht mit RechtmĂ€ĂŸigkeit zu ĂŒbersetzen ist. Zugleich wurde vermerkt, dass er im geltenden Codex des kanonischen Rechtes nur zweimal vorkommt. DiesbezĂŒglich muss zunĂ€chst eine kleine Korrektur vorgenommen werden. WĂ€hrend licet im Lateinischen hĂ€ufig vorkommt und in der Sentenz: „Quod licet Iovi non licet bovi“ allen LateinschĂŒlern bekannt ist, ist die substantivierte Form liceitas selten, eigentlich sogar ausgesprochenes Juristen- oder Kanonistenlatein. Im geltenden Codex des Kirchenrechtes von 1983 kommt sie wie gesagt nur zweimal vor. Aber nicht, wie zuerst angegeben, in can. 905 § 1 und can. 1127 § 1, sondern in cann. 506 § 1 und 1127 § 1. Beidemale steht das Wort dort  als liceitatem im Akkusativ Singular. Im ersten Fall geht es um die Bedingungen, die in den Statuten der Kanonikerkapitel fĂŒr die GĂŒltigkeit und Erlaubtheit (= liceitatem) von RechtsgeschĂ€ften festgelegt sein mĂŒssen, im zweiten Fall ist das Eherecht betroffen und wird gesagt, dass bei einer Mischehe zwischen einem Katholiken und einem Nichtkatholiken eines orientalischen Ritus die kanonische Eheschließungsform ad licietatem tantum, nur zur Erlaubtheit einzuhalten ist.

Zweigestaltigkeit des einen Römischen Ritus

Im Motu proprio Summorum Pontificum Art. 1 wird die Zweiförmigkeit des einen Römischen Ritus eingefĂŒhrt und gesagt, dass der Ă€ltere Usus niemals abrogiert worden sei, numquam abrogatam. Dasselbe stellt nochmals der Begleitbrief an die Bischöfe fest und erlĂ€utert die Aussage gewissermaßen auch, indem es dort vom Missale von 1962 heißt, dass „es nie rechtlich abrogiert wurde und insofern im Prinzip immer zugelassen blieb.“ Die Zweiförmigkeit des einen Römischen Ritus, man könnte sie auch AmbiformitĂ€t nennen, ist damit nicht mehr nur eine Privatmeinung des Theologen Joseph Ratzinger, insofern dieser liturgiewissenschaftlich oder liturgierechtlich interessiert ist, sondern eine verbindliche juristische Feststellung durch den Papst als dem obersten Gesetzgeber der Kirche. Einmal ist da das historische Faktum, dass Paul VI. offensichtlich die Absicht hatte, den Gebrauch der Ă€lteren liturgischen BĂŒcher mittel- und langfristig völlig zu unterbinden, und da ist es auch kein Gegenargument, dass alte und gebrechliche oder behinderte Priester auch schon unter Paul VI. weiterhin die alten liturgischen BĂŒcher verwenden durften. Die Eigenschaften, die sie besitzen mussten, nĂ€mlich alt und gebrechlich oder behindert zu sein, zeigen, dass mit ihnen auch der Gebrauch der Ă€lteren BĂŒcher als Auslaufmodell angesehen wurde, dessen biologisches Ende absehbar war. Außerdem durfte an diesen Messen stets nur ein GlĂ€ubiger teilnehmen, der ministriert hat.

Numquam abrogatam ist einerseits ein kosmetischer Eingriff in das Faktum der nachkonziliaren Liturgiereform durch Paul VI., weil dem Heiligen Vater allzugut klar ist, dass ohne ein solches Korrektiv die LegitimitĂ€t jeder Liturgiereform sehr fragwĂŒrdig wĂ€re. Wir sagten es schon bei unserer ersten BeschĂ€ftigung mit dem Begriff der LizeitĂ€t: Auch nicht der rechtglĂ€ubigste neue Ritus könnte rechtskrĂ€ftig eingefĂŒhrt werden, mit der erklĂ€rten Absicht, dadurch einen intakten, bestehenden, rechtglĂ€ubigen Ritus zu unterdrĂŒcken. Strenggenommen mĂŒsste man hinzufĂŒgen, dass auch ein rechtglĂ€ubiger, ĂŒberlieferter Ritus nicht ohne Weiteres einen anderen ĂŒberlieferten, rechtglĂ€ubigen Ritus rechtskrĂ€ftig ersetzen kann, solange der zu ersetzende Ritus in seiner ĂŒberlieferten Gestalt gleichermaßen liturgisch und dogmatisch intakt ist. Dieses Bewusstsein war auf Trient (vgl. DH 1749) und in der Bulle Quo primum tempore an sich noch vorhanden, ging aber bald darauf schleichend verloren und wurde im Ultamontanismus des 19. Jahrhunderts konsequent einem römischen Zentralismus oder Papalismus in der Liturgie geopfert. Der römisch-tridentinische Ritus bekam als Ritus des Papstes eine Sogwirkung: Wer papsttreu sein wollte, schloss sich der liturgischen Praxis Roms an, auch wenn Ordens- oder diözesane Eigenriten bestanden, die Trient an sich noch geschĂŒtzt hatte.

Derogative Liturgiereform bei gleichzeitiger Koexistenz zweier ritueller Formen

Mit der Sprachregelung eines neueren und eines Ă€lteren Usus des einen Römischen Ritus wird sodann zugleich in Summorum Pontificum gesagt, dass beide Feiergestalten des Ritus sich so stark unterscheiden, dass sie eine legitime, wechselseitige EigenstĂ€ndigkeit besitzen, gleichzeitig aber doch noch eine so große Übereinstimmung wahren, dass EigenstĂ€ndigkeit nicht SelbststĂ€ndigkeit wird, beide Feiergestalten sozusagen die beiden Gesichter des einen Römischen Ritus bleiben. Dass das faktisch eine GlĂ€ttung der geschichtlichen Tatsachen ist, sei dahingestellt, da es aber der oberste kirchliche Gesetzgeber und Gesetzesinterpret ist, der diese Feststellung trifft, ist sie juristisch maßgeblich und verbindlich. Das gilt auch, wenn sie unter gewisser Hinsicht sicherlich das juridische Instrument der fictio angewandt hat, von der man spricht, wenn der Gesetzgeber eine rechtlich zu ordnende Materie wie ein rechtlich bereits geregeltes PhĂ€nomen behandelt oder unter diesem de iure subsumiert, auch wenn die neue Materie diesem bereits bestehenden rechtlichen PhĂ€nomen oder einer bereits geltenden Norm de facto nicht in allen Aspekten entspricht.

Was eher ĂŒbersehen wurde, ist folgendes: Es heißt im Motu proprio Summorum Pontificum „numquam abrogatam“, nicht „derogatam“. Von Abrogation spricht die Jurisprudenz nur, wenn eine gesetzliche Norm oder die dadurch rechtlich geregelte Materie selbst aus dem NormengefĂŒge einer Rechtsordnung ersatzlos getilgt wird. Wird eine Norm durch eine neue Norm ersetzt, so spricht man von Derogation. Der entsprechende Rechtsgrundsatz lautet: „Lex posterior derogat priori“ und besagt, dass ein spĂ€ter erlassenes Gesetz das frĂŒhere Gesetz aufhebt, das zuvor die identische rechtliche Materie geregelt hat. Abrogiert hat Paul VI. die Messe nicht, das wĂŒrde nĂ€mlich heißen, er hĂ€tte die Messe abgeschafft und heute gĂ€be es keine Messe mehr. Abrogiert hat er auch die liturgischen BĂŒcher nicht, sondern sie höchstens derogiert, weil es fĂŒr alle alten liturgischen BĂŒcher eine entsprechende neue Ausgabe gibt. Im strikten Wortsinn genommen, besagt also die Aussage numquam abrogatam gar nichts besonders bemerkenswertes, denn durch die EinfĂŒhrung der neuen BĂŒcher wurden die Ă€lteren BĂŒcher gewissermaßen nur derogiert.

Legitimitas und Liceitas

Wenn wir jetzt weiter auf die vermutlich in der letzten Fassung der LehrmĂ€ĂŸigen PrĂ€ambel vom 13. Juni 2012, die EcĂŽne annehmen soll, vorkommende Begrifflichkeit liceitas eingehen, mĂŒssen wir feststellen, dass die Instruktion Universae Ecclesiae zum Motu proprio Summorum Pontificum noch krĂ€ftiger formuliert. In UE 19 heißt es: „Christifideles celebrationem secundum formam extraordinariam postulantes, auxilium ne ferant neque nomen dent consociationibus, quae validitatem vel legitimitatem Sanctae Missae Sacrificii et Sacramentorum secundum formam ordinariam impugnent, vel Romano Pontifici, Universae Ecclesiae Pastori quoquo modo sint infensae.“ Zu Deutsch: „Die GlĂ€ubigen, die Gottesdienste in der forma extraordinaria erbitten, dĂŒrfen nicht Gruppen unterstĂŒtzen oder angehören, welche die GĂŒltigkeit oder Erlaubtheit der heiligen Messe oder der Sakramente in der forma ordinaria bestreiten und/oder den Papst als Obersten Hirten der Gesamtkirche ablehnen.“ Hier steht also noch legitimitatem, die von Pater Schmidberger in die liceitas hineingelesene RechtmĂ€ĂŸigkeit.

Die liceitas der neuen liturgischen BĂŒcher anzuerkennen, wĂ€re weit weniger verlangt. Das, was man als erlaubt anerkennt, muss man selbst nicht unbedingt praktizieren, um die Anerkennung der Erlaubtheit glaubhaft zu machen; ja, niemand muss von allem, was er als erlaubt anerkennt, in allen Punkten begeistert sein. Er kann Argumente vortragen, warum er selbst es bevorzugt, das Erlaubte nicht zu praktizieren und sogar solche, warum nach seiner Überzeugung bestimmtes besser nicht erlaubt worden oder sein oder, warum es wieder untersagt sein sollte. Das hĂ€ufig zu vernehmende Argument: „Aber der Heilige Vater zelebriert doch auch im ordentlichen Usus, da können Sie es doch auch tun“, ist an sich immer noch der gleiche ultramontane Papalismus aus dem 19. Jahrhundert.

Summorum Pontificum verlangt ja auch von niemandem, der sich an die neuen liturgischen BĂŒcher hĂ€lt, persönlich zumindest gelegentlich oder gar regelmĂ€ĂŸig die alten liturgischen BĂŒcher zu verwenden; dass ihr Gebrauch erlaubt ist, muss jeder anerkennen. Freilich, alles, was erlaubt ist, muss in einem bestimmten Sinne auch rechtmĂ€ĂŸig und rechtskrĂ€ftig erlaubt worden sein. Deswegen wohl auch die kanonistische Festlegung, der Derogationscharakter der Liturgiereform Pauls VI. habe nicht die neuen liturgischen BĂŒcher an die Stelle der alten gesetzt, sondern nur eine Koexistenz neuer und alter liturgischer BĂŒcher begrĂŒndet. Wegen der bestehenden AmbiformitĂ€t des Römischen Ritus koexistieren jeweils eigenstĂ€ndig die Ă€lteren und neueren liturgischen BĂŒcher sozusagen simultan nebeneinander. Im Wesentlichen sind sie gleichberechtigt, doch eine gewisse PrioritĂ€t beziehungsweise Nachordnung schließt der Derogationsakt der Liturgiereform Pauls VI. trotzdem ein, nĂ€mlich insofern, als der neuere Usus jetzt als die ordentliche, der Ă€ltere als die außerordentliche Form des Römischen Ritus bestimmt worden ist. In der Euphorie ĂŒber Summorum Pontificum wurde das öfters ĂŒbersehen oder aus dem Bewusstsein verdrĂ€ngt.

Außerordentlich bedeutet kirchenrechtlich nicht etwa das Besondere oder Hervorragende, sondern stets die Ausnahme von der Norm und die Abweichung von der Regel. Der Bischof ist der ordentliche Firmspender, der Priester nur der außerordentliche. Diakon und Priester sind ordentliche Kommunionspender, Laien nur außerordentliche Kommunionhelfer. So ist die neue Liturgie nach Summorum Pontificum weiterhin als die ordentliche bestĂ€tigt, die alte die außerordentliche. Daran Ă€ndert auch die historische oder chronologische PrĂ€zedenz der alten BĂŒcher vor den neuen nichts, eben weil sie nur aufgrund einer speziellen Sonderform von Derogation koexistieren. Normalerweise wĂŒrde gelten, dass die Ă€lteren durch die neueren BĂŒcher aufgehoben, also ersetzt werden. Das ist nur deshalb nicht der Fall, weil Benedikt XVI. bestimmt hat, dass die neuen liturgischen BĂŒcher sich einerseits so stark von den alten unterscheiden, dass sie eine eigenstĂ€ndige, neue Form gegenĂŒber der alten, bisher einzigen, Form ausgebildet haben, dass aber beide Formen andererseits die wesentliche IdentitĂ€t des Römischen Ritus bewahren und gemeinsam haben.

Wieder ein einziger Römischer Ritus in KontinuitÀt oder: eine neue Form von liturgischer UniformitÀt und römischem Zentralismus?

Im großen historischen und kulturellen Zusammenhang, sozusagen in der liturgiegeschichtlichen KontinuitĂ€t, bedeutet wechselseitige Befruchtung beider Formen dann in den Augen Benedikts XVI. sicher eine Orientierung der neuen Liturgie an dem, aus dem sie sich entwickelt hat. Da aber das Neue eben nicht einfach an die Stelle des Alten getreten ist, sondern das Neue gegenĂŒber dem Alten legitime EigenstĂ€ndigkeit entwickelt hat und das Alte ĂŒberhaupt nur deshalb legitimen Fortbestand bewahrt, ist kanonistisch auch klar, dass bei einer Reform der Reform, wenn diese langfristig wieder in eine einzige Gestalt des Römischen Ritus mĂŒnden soll, die außerordentliche Form sich eher an der ordentlichen Form orientieren mĂŒsste als umgekehrt. Wenn eine Reform des Missale Romanum von 1962 wieder in einen solchen eingestaltigen Römischen Ritus mĂŒnden wĂŒrde und dieser dann fĂŒr alle verpflichtend wĂ€re, die in ihrer Liturgie dem Römischen Ritus folgen, wĂ€re das vielleicht tatsĂ€chlich die geglĂŒckte Integration dessen, was in vierzig Jahren nachkonziliarer liturgischer Praxis wirklich gereift ist, in die große Tradition Römischer Liturgie.

Originelle Synthese und Symbiose: Ultramontaner Gallikanismus

Wenn es aber nur darum gehen wĂŒrde, die außerordentliche Form Ă€ußerlich an die ordentliche enger heranzufĂŒhren, ohne die ordentliche im Sinne der liturgischen Tradition zu beeinflussen, wĂ€re die Befruchtung einseitig. Solange im Römischen Ritus eine ordentliche und eine außerordentliche Form nebeneinander bestehen sollen, ist es besser, wenn die außerordentliche Form rituell unangetastet bleibt – als Zeugnis, Ursprung und geschichtlicher Orientierungspunkt der nachkonziliar erneuerten Feiergestalt der Römischen Liturgie. Einzelne zusĂ€tzliche PrĂ€fationen oder eine behutsame Aktualisierung des Ă€lteren liturgischen Kalenders wĂŒrden allerdings mit der rituellen IntegritĂ€t der außerordentlichen Form des Römischen Ritus nicht unvereinbar sein. Die Liturgiereform des II. Vaticanums nahm sich unter anderem auch vor, den nachtridentinischen und nach dem I. Vaticanum nochmals zusĂ€tzlich gesteigerten, liturgischen Uniformismus und Zentralismus Römischer Einheitsliturgie ĂŒberwinden zu wollen.

Wenn jetzt nur die außerordentliche an die ordentliche Form herangefĂŒhrt wird, ohne wieder eine gemeinsame Form anzustreben und zu finden, die gleichermaßen den liturgischen und theologischen Anliegen der Liturgiekonstitution, demjenigen, was sich in vierzig Jahren nachkonziliarer Praxis wirklich bewĂ€hrt hat und der großen liturgischen KontinuitĂ€t Roms gerecht wird, hat man diesen Zentralismus nicht ĂŒberwunden und nichts aus ihm gelernt. Dann ist es keineswegs ĂŒberraschend, wenn sich als Reaktion die paradoxe Allianz ergibt, dass in Gruppen wie der Piusbruderschaft, die gewissermaßen die Erben des Ultramontanismus sind, gleichzeitig gallikanistische Töne laut werden, wie es passagenweise in der Predigt Weihbischof Bernard Tissiers in Fulda anlĂ€sslich der deutschen Distriktswallfahrt zum Heiligen Bonifatius am 2. September 2012 bereits sehr deutlich geschehen ist.

Foto: Alte Messe – Bildquelle: PMT

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