Glaubenslehren verleiblicht in Riten

Eine Buchbesprechung von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 30. Oktober 2019 um 23:16 Uhr

„Wir treffen bisweilen mit Männern zusammen, die fragen, weshalb wir diese oder jene Zeremonien oder diese oder jene Praxis beobachten; warum wir zum Beispiel bestimmte Gebetsformen so sorgsam und streng einhalten. Warum bestehen wir darauf, beim Sakrament des Abendmahls des Herrn zu knien, warum darauf, uns zum Namen Jesu zu verneigen oder den öffentlichen Gottesdienst ausschließlich an geweihter Stätte zu halten? Warum legen wir eine solche Betonung auf derlei Dinge? Diese und viele andere solcher Fragen mögen sie uns stellen, und immer ist der Einwand derselbe, dies seien allesamt gleichgültige Dinge, denn wir läsen nichts von ihnen in der Heiligen Schrift“ (S. 76, kursiv im Text).

Das Zitat, mit dem ich den Einstieg mache, erklärt die Motivation, die Peter Andrew Kwasniewski bewogen hat, in einem mehr als fünfhundert Seiten starken Buch sämtliche wesentlichen und aussagekräftigen Texte zusammenzustellen, in denen John Henry Newman sich mit der Bedeutung von Gottesdienst und Kult für den christlichen Glaubensvollzug beschäftigt.

Der Gottesdienst als Newmans Weg zur Konversion und zu seiner Theologie der Liturgie

Die meisten der einschlägigen Texte und Passagen, die Kwasniewski gefunden hat, entstanden interessanterweise während Newmans anglikanischer Phase, im Eingangszitat, das wie alle weiteren jeweils vom Rezensenten selbst eigens für diese Besprechung ins Deutsche übertragen worden ist, zeigt sich das noch deutlich in der protestantischen Terminologie vom Abendmahl. Doch bei der Lektüre zeichnet sich bald ab: Diese Texte bereiten gleichsam alle schon Newmans Konversion zur römisch-katholischen Kirche vor, beziehungsweise sie machen verständlich, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat und was diesen Schritt selbst in Newmans geistig-geistlichem Werdegang schlechterdings unausweichlich und folgerichtig macht. Die Stelle ist einer Predigt entnommen, die Newman am Neujahrstag 1835 gehalten hat, bis zu seinem Übertritt in die katholische Kirche am 9. Oktober 1845 lagen also noch über zehn Jahre vor ihm.

Der Protestant, der in die Messe stolpert

In einem weit späteren Text, 1850 entstanden, Newman ist bereits fünf Jahre römischer Katholik und seit drei Jahren auch zum katholischen Priester geweiht, zeigt sich etwas von seiner großen erzählerischen Gabe, die er sogar als Romanschriftsteller betätigt hat. Er entwirft die Szene eines Protestanten, der zufällig während einer Messe in eine katholische Kirche kommt und sich auf all das, was er da sieht, keinen Reim machen kann, so dass er es für ein einziges Brimborium hält und gewissermaßen ratlos, vielleicht enttäuscht, wieder rausgeht. Dann fährt Newman fort: „Und würde es nicht wirklich ein Mummenschanz sein, meine Brüder, wenn dies alles wäre? Aber wird er es für ein Brimborium halten, wenn er erfährt und ernsthaft erfasst, dass demgemäß, was ein Katholik glaubt, das menschgewordene Wort, die zweite göttliche Person der ewigen Dreifaltigkeit hier körperlich, leibhaftig anwesend ist – verborgen freilich für unsere Sinne, aber sonst auf keinerlei Weise von uns abgeschirmt? Er mag von sich weisen, was wir glauben, aber er wird nicht mehr über das verwundert sein, was wir tun.

Und so wiederum, öffnen Sie das Messbuch, lesen Sie darin die peinlich genauen Anweisungen, die für die Zelebration der Messe gegeben werden: Welche Vorkehrungen müssen gegeben sein, damit der Priester sich darauf vorbereiten kann? Wie muss er jede einzelne seiner Handlungen, seines Bewegungsablaufs, seiner Gesten und Äußerungen vollziehen? Was ist zu tun, wenn ein Zwischenfall aus der Vielzahl möglicher Vorkommnisse sich ereignet, während er gerade die Messe feiert? Was für eine einzige große Lächerlichkeit wäre es doch, wenn all dies nichts bedeuten würde!

Wenn es aber eine Tatsache wäre, dass der Gottessohn in seinem menschlichen Fleisch und Blut durch die Hände des Priesters, der ein Mann ist, sein Opfer darbringt, so wäre es klar, dass kein Ritus, sei er noch so ausgefeilt und werde er mit geradezu angstvoller Sorgfalt ausgeführt, den tiefgründigen, überwältigenden Inhalten wirklich angemessen sein kann, die dem Geist bei einer solch heiligen Handlung innewohnen.

Somit bestehen die Gebräuche und heiligen Handlungen der Kirche nicht zum Selbstzweck. Sie stehen nicht für sich selbst, sie genügen nicht sich selbst. Sie schlagen keine Schlacht in eigener Sache, sie sind nicht als letzte Ziele angeordnet. Vielmehr hängen sie gänzlich ab von einem inwendigen Wesen. Sie beschützen ein Mysterium und verteidigen ein Dogma. Sie stehen für eine Idee, sie predigen die gute Botschaft, sind die Kanäle der Gnade. Sie sind die äußere Gestalt einer inneren Wirklichkeit oder Tatsache, die kein Katholik bezweifelt, die als ein erstes Prinzip versichert wird, das nicht die Unterlegenheit einer Begründung ist, sondern der Gegenstand eines geistlichen Sinnes“ (S. 406, kursiv jeweils zur Hervorhebung, C. V. O.).

Diese Argumentation findet ihre Bestätigung und Fortführung, wenn Newman an anderer Stelle schreibt: „In seine priesterlichen Gewänder gehüllt, versinkt das, was individuell am Priester ist, und er ist nichts anderes mehr als der Repräsentant dessen, von dem der er die Vollmacht seiner Sendung empfängt. Seine Stimme und ihre Tonlage, seine Handlungen, seine ganze Gegenwart, sie alle verlieren, was rein persönlich daran ist. Der eine Bischof und Priester ist so gut wie der andere. Sie alle singen dieselben Noten [Newman verrät sich als Optimist, Anm. C. V. O.] und machen die gleichen Kniebeugen, wie sie auch den gleichen Friedensgruß erteilen, den gleichen Segen spenden, ein und dasselbe Opfer darbringen.

Die Messe darf nicht gelesen werden, ohne dass der Priester das Missale vor Augen hat, noch in einer anderen Sprache als der, die seit den frühesten Hierarchen und Vätern der Westkirche an uns weitergegeben worden ist. Sobald aber alles vorüber ist und der Zelebrant die liturgischen Gewänder seines Priesteramtes abgestreift hat, kehrt er sozusagen wieder zu sich selbst zurück und kommt auch zu uns wie zuvor mit den Gaben und Eigenheiten, die mit seiner jeweiligen Person verbunden sind“ (S. 424f).

Im Kult verkörpert sich das Dogma

Für Newman, das zeigen die ausgewählten Ausschnitte, verkörpert der Kult das Dogma. Dies wird deutlich in einem letzten Text, diesmal von 1872, mit dem der Appetit geweckt werden soll, zu Kwasniewskis thematischer Textauswahl aus John Henry Newmans Werk zu greifen: „Die Lehren der Kirche sind nicht bloße Ansichtssache. Bereits in früher Zeit sind sie nicht reine Ideen des Geistes, auf die sich niemand berufen könnte und deren jeder Einzelne seine eigenen hätte. Vielmehr waren sie von Anfang an äußerlich wahrnehmbare Fakten, nicht in geringerem Maße als die Bücher der Heiligen Schrift es sind. Doch – wie das? Deshalb, weil die Glaubenslehren von Beginn an in Riten und Zeremonien verleiblicht waren. (…)

Nun aber sind solche Gebräuche Sinnbilder gemeinsamer, nicht individueller, Überzeugungen und involvieren mehr oder weniger die Doktrinen, deren Symbolbilder sie sind. Ist es nicht, um ein Beispiel zu nennen, in der Tatsache, dass nur Priester die Eucharistie konsekrieren, vorausgesetzt, dass die Wandlungsvollmacht eine Gabe ist, die andere nicht besitzen? Oder darin, dass die Eucharistie Gott dargebracht wird, dass sie ein Opfer ist“ (S. 500)?

Newman, der jetzt als Heiliger verehrt werden darf, hat schon viele ehrende Beinnamen bekommen, Kirchenlehrer, ja Kirchenvater der Neuzeit hat man ihn genannt. Die vorgestellten Texte geben einen Vorgeschmack davon, dass er zur Liturgie eine wertvolle und inspirierende Theologie zu bieten hat und ein klarer Fürsprecher derer ist, deren Glaube sich in der überlieferten Liturgie inkarniert. Dazu, diese Inspiration aus Newmans Beispiel und Schriften zu schöpfen, ist das neue Buch John Henry Newman on Worship, Reverence & Ritual für alle, die auch ein anspruchsvolles, teils archaisch-hieratisches Englisch lesen und verstehen können, ein erfrischend sprudelnder Quell. Eine Neuerscheinung, deren Anschaffung allemal lohnt.

Newman on Worship, Reverence, and Ritual: A Selection of Texts (Englisch) Taschenbuch
von Peter A. Kwasniewski
Preis: 19,29 €

Foto: Newman, Cover – Bildquelle: Prof. Kwasniewski

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