Ein Überdenken des zweiten Vatikanums ist nötig – aber noch nicht alles!

Ein Kommentar von Mag. theol. Michael Gurtner.
Erstellt von Mag. Michael Gurtner am 13. Januar 2012 um 03:11 Uhr
Petersdom

In diesem Jahr wird es sich zum 50. Mal jähren, daß das 2. Vatikanische Konzil unter dem seligen Papst Johannes XXIII. zusammengetreten ist, nachdem es drei Jahre zuvor angekündigt wurde. Der Heilige Vater Papst Benedikt XVI. feliciter regnans hat aus diesem Anlaß ein Jahr des Glaubens ausgerufen – und einige Monate zuvor einen eigenen Rat zur Neuevangelisierung des Westens gegründet bzw. auf Grund der verheerenden Glaubenssituation des einstmals katholischen Westens gründen müssen, und diesem Thema wird auch die Bischofssynode im Oktober 2012 gewidmet sein. Ein drängendes Thema, welchem der regierende Pontifex viel Raum widmet.

In seinem Motu Proprio Porta fidei spricht Seine Heiligkeit Papst Benedikt deutliche Worte in Bezug auf den Wandel, ja man möchte sagen: den Verlust dessen, was einstmals weithin als Selbstverständlichkeit galt. Der pontifex maximus schreibt im Wortlaut: „Nun geschieht es nicht selten, daß die Christen sich mehr um die sozialen, kulturellen und politischen Auswirkungen ihres Einsatzes kümmern und dabei den Glauben immer noch als eine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens betrachten. In Wirklichkeit aber besteht diese Voraussetzung nicht nur nicht mehr in dieser Form, sondern wird häufig sogar geleugnet. Während es in der Vergangenheit möglich war, ein einheitliches kulturelles Gewebe zu erkennen, das in seinem Verweis auf die Glaubensinhalte und die von ihnen inspirierten Werte weithin angenommen wurde, scheint es heute in großen Teilen der Gesellschaft aufgrund einer tiefen Glaubenskrise, die viele Menschen befallen hat, nicht mehr so zu sein.“

Etwas hat sich also verändert, der Glaube ging weitgehend verloren, die Kirche wird nicht mehr als gnadenreiches Heilsinstitut verstanden, sondern als eine reine Wohlfahrtsorganisation. Der Glaube ist in einer Krise. Bereits Kardinal Ratzinger stellte diese Diagnose, und gewichtiger wird sie wenn sie Papst Benedikt XVI. ebenso stellt. Das ist die reale Situation, wenn wir heuer 50 Jahre Vaticanum II feiern.

Weshalb konnte sich sie einstmals katholische Gesellschaft so rasant verändern?

Diese Frage stellen sich derzeit viele Verantwortungsträger der Kirche. Was man lange verdrängen konnte, vielleicht sogar streckenweise gutgeheißen hat, kann man nicht länger ignorieren da es an der eigenen Existenz zu nagen beginnt, nachdem die Substanz, d.h. die Wesenselemente (hierarchische Struktur, sakramentale Praxis, Amtsverständnis, Standesverständnis etc.) nahezu aufgefressen ist: alles ist einerlei, es soll, geht es nach dem Willen des modernen Menschen (auch Theologen und gar Kleriker!) predigen wer über die bessere Rhetorik verfügt, die „Gemeinde“ soll demokratisch geleitet werden und wer ihr an der Spitze „vorsteht“ (demokratisch gewählt, freilich), der soll nur moderieren und quasi als koordinierender Sekretär amten. Die Sakramente sollen alle spenden können, die dafür „beauftragt“ sind – und dies steht freilich allen offen.

Das ist das allgemeine „Verständnis von Kirche“ im Westen, 50 Jahre nach dem letzten Konzil, wobei diese Entwicklung freilich bereits vor über vierzig Jahren einsetzte. Wir dürfen also ja nicht den Fehler begehen und meinen, es wäre erst seit einigen Jahren so; doch jetzt merken wir die Konsequenzen auch finanziell und personell, und deshalb setzt ein vermehrtes Nachdenken ein. Der lecke Geldhahn schafft, was schon die alarmierenden Bilder und Nachrichten der 70er-Jahre hätten auslösen können und müssen, als die Messe vom sakralen Opfer zur sozialzentrierten Versammlung wurde. Daß es zu solch rasanten Veränderungen kommen konnte hat gewiß viele unterschiedliche Gründe, welche aber zusammenhängend sind. Ein Internetartikel kann hier gewiß nicht genügend Platz für eine umfassende Analyse bieten, wohl aber für einige grobe Streiflichter, wenngleich es sich um ein großes Netz von Zusammenhängen handelt, welche alles zusammengenommen die heutige Situation herbeiführte.

Einen ersten Beitrag lieferte sicher der Zusammenbruch der Monarchie, welcher nicht unbedingt gutgetan hat. Die Demokratie wurde und wird als Allheilmittel angesehen, die Angebundenheit an eine übergeordnete Instanz (auch an Gott) entrückt dem Bewußtsein, und es entstand ein neues Verständnis von Rechtsgrund, Sozialgefüge und Ständebewußtsein, welches auch auf das Kirchen- und Amtsverständnis Auswirkungen hatte. Das neue Verständnis des demokratischen Staates wurde nach und nach mit dem Kirchenverständnis zusammengeführt, und zwar auf Kosten einer von der Theologie her gedachten Kirchenverfassung.

Während man auf der einen Seite Staat und Kirche mehr und mehr zu trennen suchte, was im neuen Konzept der Religionsfreiheit gipfelte, führte man paradoxer Weise zur gleichen Zeit Staat und Kirche denkerisch auch wieder vermehrt zusammen, indem dem Staat getilgt wurde was göttlich war, und dieses religions- und gottfreie neue Staats- und Rechtsverständnis nach und nach auch auf die Kirche übertragen wurde. Dies führte dazu, daß selbst Theologen nicht mehr Gott im Auge haben wenn sie von Kirche und Glaube sprechen, sondern ihr grundlegendes Argument für ihre Thesen wurde zunehmend „alle wollen/machen/sagen“. Ein demokratisch-statistisches „Was kommt an?“ wurde zur allgemeinen Grundfrage.

An die Stelle des theos rückte also nach und nach der demos, Gott wurde durch „das Volk“ bzw. „der Mensch“ ersetzt. Das ist der zweite Beitrag, der als Konsequenz aus dem ersten entwächst. Diese Anthropolisierung der göttlichen Kirche war kein neues Phänomen, sie trat vereinzelt immer wieder auf, doch wurden derartige Tendenzen von der Kirche stets kraftvoll und deutlich zurückgewiesen. Auf dem letzten Konzil jedoch kam es plötzlich in weiten Kirchenkreisen selbst zu einem derartigen Umdenken, wenngleich noch sehr vereinzelt. Sehr subtil wird durch eine veränderte und wenig deutliche (und deshalb um so interpretationsbedürftigere, was aber fatal ist) Sprache eine neue Auffassung der Dinge begünstigt. Es wird zumindest getilgt, was als Gegenargument für diese Auffassungen dienen könnte. In Gaudium et spes 12 etwa lesen wir einen zunächst rein affirmativen Satz der lautet: „Es ist fast einmütige Auffassung der Gläubigen und der Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist“.

Dieser Satz, für sich genommen, ist zunächst eine reine Behauptung. Es ist, strenggenommen, keine eindeutige Stellungnahme der Konzilsväter darüber enthalten, ob sie selbst auch diese Auffassung teilen, und auch die nachfolgenden Sätze beschreiben lediglich die beiden Extreme der Auffassung des Menschen über sich selbst. Doch durch die Aussage, (auch) beinahe alle Gläubigen teilen diese Auffassung, und darüber hinaus auch noch beinahe alle Nichtgläubigen wird der Eindruck erweckt, es sei auch die Meinung der Konzilsväter bzw. der Kirche, daß der Mensch Mittel- und Höhepunkt „alles auf Erden“ sei, und daß alles auf diesen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen sei.

Freilich kann man Einwände erheben, etwa daß hier nur von der Schöpfung die Rede ist, nicht aber vom schöpfenden Gott. Aber dies sind Spitzfindigkeiten und Nuancen, welche dem durchschnittlichen Leser entgehen – und gerade das zweite Vaticanum wollte ja nicht so sehr für die studierten Theologen schreiben, sondern für alle Gläubigen, auch die einfachsten unter ihnen. Und spätestens die Aussage, daß alles auf den Menschen hinzuordnen ist, ist eine eindeutige anthropologische Wende, weg von Gott und hin zum Mensch. Solche Aussagen, noch dazu unkommentiert, suggerieren eindeutig eine Zustimmung und es ist absehbar, daß viele Leser meinen werden, dies sei auch die offizielle Position der Kirche.

Und bestärkt wird dies, wiederum auf recht subtile Weise dadurch, daß auch die Liturgie, beispielsweise, die selbe Wende einschlägt: Volksaltar, der Priester spricht anscheinend zur „Versammlung“, es wird beinahe ausschließlich die Volkssprache gebraucht denn man müsse ja alles verstehen etc. Dies sei nur als ein Beispiel dafür angeführt, daß es auch in der Kirche selbst Faktoren gab, welche das begünstigten und förderten, was wir heute zu Recht beklagen müssen. Dies darf man dabei nicht so sehr als Anklage verstehen, das würde wenig Sinn machen und nicht wirklich helfen. Aber man muß die Ursachen und Begünstigungen für die Probleme ausmachen, analysieren und an diesen Punkten bei der Lösung ansetzen, wenn man zu einem befriedigenden Ergebnis gelangen möchte.

Das Zweite Vatikanum darf auch angefragt werden

Anhand eines Beispiels haben wir kurz skizziert, daß die gegenwärtige Glaubenskrise sehr vielfältige Ursachen hat: neben außerkirchlichen Faktoren müssen wir ehrlicher Weise wohl auch innerkirchliche Faktoren anerkennen. Das letzte Konzil ist dabei sicherlich nicht die Alleinschuld zuzuschieben, aber wenn man ehrlich ist wird man nicht umhin können, auch in diesen Unzulänglichkeiten zu konstatieren – und man kann dies durchaus tun, ohne dabei unkatholisch zu sein oder dem Lehramt untreu zu werden. Im Gegenteil, aus Liebe zur Kirche und zum katholischen Glauben müssen wir alles tun, um die gegenwärtige Glaubenskrise zu überwinden, ohne dabei aber die Substanz oder das Nützliche zu verletzen. Und in vielen Fällen gilt es, die Substanz wieder ans Licht zu heben und dem Nützlichen wieder sein Recht zu verleihen, auch wenn es nicht des Wesentlichen des Glaubens zuzurechnen sein sollte, diesem aber letztlich doch zuarbeitet.

Gerade in den letzten Jahrzehnten wurden die Jungthelogen darauf gedrillt, alles „kritisch zu hinterfragen“, wobei das Fragen meist als Argumentsuche der Negation gemeint war, was theologisch hoch unredlich ist. Wendet man dasselbe Hinterfragen, jedoch in theologisch redlicher Weise, auf das zweite Vaticanum (oder einige handverlesene Theologen der liberalen Schule) an, dann gilt dies denselben Leuten, welche sonst alles „kritisch hinterfragt“ sehen möchten, seltsamer Weise als Generalangriff und Hochverrat, geradezu als hätte man den rechten Glauben verloren.

Es ist gewiß die Frage erlaubt, vorausgesetzt sie ist aufrichtig und ernsthaft gestellt, ob es nicht auch Momente des letzten Konzils gibt, welche falsch sind, oder aber Falsches begünstigten. Wenn die Frage, ob die Muttergottes wirklich jungfräulich ist, oder ob Christus wirklich leiblich auferstanden ist erlaubt, ja anscheinend gar geboten ist, dann wird es wohl auch erlaubt sein, das letzte von 21 Konzilien auf einzelne Aussagen oder aber auch auf Zusammenhänge hin zu hinterfragen. Wenn sich darin Aussagen befinden, welche nicht korrekt sind, dann können diese auch nicht im Glauben verpflichten. Wenn es Passagen gibt, welche mehrdeutig sind, falsche Assoziationen erwecken oder dem Glauben wie ihn die Kirche gelehrt hat nicht entsprechen, wenn es Sätze gibt welche nicht wahrheitsgemäß sind oder die dem gesunden Glauben des Volkes schaden können, dann müssen diese auch dementsprechend gereinigt werden.

Man kann sicherlich nicht erwarten, daß mit einer relecture des zweite Vaticanums wieder die katholische Ordnung zurückkehren würde, das ganz gewiß nicht. Aber eine sorgfältige Überprüfung der Aussagen, und zwar ohne dabei den Zeitgeist im Nacken zu fühlen und sich von diesem beeinflussen zu lassen, ist einer von vielen wichtigen Teilen, wollen wir den Glauben wieder stärken. Die Liberalisierung der Kirche, Abstriche in der Lehre und die Nachahmung einer simplifizierten Kultur haben eindeutig nicht zur Stärkung des Glaubens beigetragen, ebensowenig wie das zweite Vaticanum in der Lage war einen Glaubensfrühling zu bewirken. Ansonsten bräuchten wir keinen Rat zur Neuevangelisierung, ansonsten müßte der Apostolische Stuhl keine Glaubenskrise konstatieren, ansonsten sähe Kirche, Staat und Gesellschaft anders aus.

Da es sich eben nicht um eine Alleinschuld handelt, sondern die Ursachen sehr komplex und verflochten sind ist es möglich, daß auch ohne die Änderungen der letzten Jahrzehnte der Glaube verfallen wäre. Aber ebenso gilt auch, daß er weniger verfallen wäre, wenn es nicht diese Mitschuld gäbe, welche auch den letzten Reformen zufällt. Oft sind es Kleinigkeiten, die sich im Gesamten aber doch summieren.

Diese Glaubenskrise ist nur zu überwinden, wenn wir in Ehrlichkeit einzelne Elemente überprüfen und korrigieren, auch wenn sie bislang als unberührbar galten, wie eben das letzte Konzil. Nur die Suche nach dem was göttliche Wahrheit ist vermag uns aus der Krise herauszuführen. Anfangs mögen manche Positionen und notwendige Maßnahmen wohl unpopulär sein, aber sie sind ebenso nötig wie die Maßnahmen die ein Staat ergreifen muß um den Staatsbankrott abzuwenden. Im letzten geht es um das Heil von Seelen – und dafür dürfen wir keinen Kampf scheuen.

[1] S.H. Papst Benedikt XVI, Motu Proprio Porta fidei, Nr. 2

Foto: Petersdom – Bildquelle: M. Bürger, kathnews

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung