Ein Martyrium heutiger Zeit

Kardinal George Pells GefÀngnistagebuch als Zeugnis moderner Hexenjagd. Eine Buchrezension von Margarete Strauss.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 17. September 2021 um 10:47 Uhr
Jesus Christus am Kreuz

„Dieses GefĂ€ngnistagebuch hĂ€tte nie geschrieben werden dĂŒrfen.“ So beginnt der erste Band des GefĂ€ngnistagebuchs von George Kardinal Pell in der Einleitung seines Studienfreundes George Weigel. Mehr als ein Jahr musste der Kardinal im GefĂ€ngnis sitzen fĂŒr eine Tat, die er nie begangen hat. Ihm wurde vorgeworfen, in den neunziger Jahren zwei Chorknaben in der Sakristei der Melbourner Kathedrale sexuell missbraucht zu haben.  Im Anschluss an einen Ă€ußerst fragwĂŒrdigen Prozess wurde er am 11.12.18 schuldig gesprochen und das Strafmaß am 13.03.19 auf sechs Jahre GefĂ€ngnis festgelegt. Das Urteil basiert ausschließlich auf der GlaubwĂŒrdigkeit des KlĂ€gers, einer der beiden noch lebenden Chorknaben. Der erste Band umfasst die erste Phase seines GefĂ€ngnisaufenthalts vom 27.02.2019 bis zum 13.07.19, also kurz vor der Ablehnung seiner Berufung vor dem Obersten Gerichtshof von Victoria am 21.08.19. Erst das Oberste Gericht von Australien hob die vorausgegangenen Urteile am 07.04.20 einstimmig auf. Er saß insgesamt 404 Tage unschuldig im HochsicherheitsgefĂ€ngnis von Melbourne. FĂŒr die entstandenen Anwaltskosten von umgerechnet 1,9 Mio Euro muss er selbst aufkommen.

Die Struktur

Kardinal Pells Weihespruch – Nolite Timere, habt keine Angst – zieht sich wie ein roter Faden durch seine TagebucheintrĂ€ge. Furchtlos und hoffnungsvoll, wenn auch nicht ohne Leiden, trĂ€gt er sein Kreuz und nimmt sein Geschick als den Willen Gottes an. Insgesamt betrachtet er seinen gesamten GefĂ€ngnisaufenthalt als ausgedehnte Exerzitien. Die TagebucheintrĂ€ge sind so gegliedert, dass er Dinge aus seinem Alltagsleben neben tiefgrĂŒndige theologische Betrachtungen stellt, vor allem ĂŒber die Hl. Schrift und die KirchenvĂ€ter, was das Tagebuch Ă€ußerst abwechslungsreich gestaltet. Zudem thematisiert er immer wieder die AFL, da er selbst beinahe eine Profikarriere als Footballspieler eingeschlagen hĂ€tte. Immer wieder streut er Impulse aus den zahlreichen Briefen ein, die ihn tĂ€glich erreichen. Er spricht auch viel ĂŒber die Katholische Kirche Australiens, ĂŒber weltkirchliche und gesellschaftliche Themen und skizziert die BemĂŒhungen um den Berufungsprozess. Jeder Tagebucheintrag schließt mit einem Gebet, das die Ereignisse des Tages passend abschließt.

Schriftbetrachtung

Kardinal Pell nutzt die Zeit seiner Haft, um verschiedene biblische BĂŒcher sowie die KirchenvĂ€ter zu studieren. Oft betrachtet er die Hl. Schrift im Kontext des liturgischen Jahres. Das Buch Ijob hilft ihm in der Eingewöhnungsphase.[1] Er empfindet die Fastenzeit als intensive Bußzeit. Er arbeitet sich auch durch die Johannesoffenbarung sowie den HebrĂ€erbrief. Dies hilft ihm in der Zeit seiner Haft, in der er selbst die Messe nicht feiern kann und nur ein- oder zweimal in der Woche von der Ordensschwester Mary O’Shannassy die Kommunion empfĂ€ngt. Ihn schmerzt dies sehr: „Heute ist seit vielen Jahrzehnten, wahrscheinlich seit ĂŒber 70 Jahren, der erste Sonntag, an dem ich – ohne krank zu sein – keine Messe besucht oder zelebriert habe. Ich konnte nicht einmal die Kommunion empfangen“.[2] Besonders intensiv sind seine Betrachtungen ĂŒber die Eucharistie an GrĂŒndonnerstag[3] und die GegenĂŒberstellung der beiden Apostel Petrus und Judas Iskariot.[4]

GefÀngnisalltag

Pells GefĂ€ngnisalltag basiert auf den Konstanten des Gebets, der Mass for You am Morgen, der HofgĂ€nge in einem der beiden Höfe, die er sogar freiwillig reinigt, der vielen Besucher, seiner tĂ€glichen zwei Sudokus und der Übertragungen der AFL-Spiele, der vielen Briefe und schließlich der Belletristik wie Tolstois Krieg und Frieden.

Bei der Schilderung seines Gebetslebens geht er offen mit seinen Schwierigkeiten um. Es fĂ€llt ihm auch manchmal schwer, die Schriftbetrachtung zu halten. Er verschweigt auch nicht, wenn er die Morgenmesse um 06:00 Uhr verschlĂ€ft. Er zeichnet sich selbst durch seine TagebucheintrĂ€ge als gewöhnlichen Menschen mit StĂ€rken und SchwĂ€chen. In diesem Zusammenhang erwĂ€hnt er auch die flĂ€chendeckende Beobachtung in heutiger Zeit, dass Hektik und Ablenkung um sich greifen. Umso mehr sehnen sich Menschen nach Stille und Kontemplation: „Keine vorherige Generation war zu einer so andauernden Zerstreuung fĂ€hig wie diese (
). Den meisten unserer neuen Seminaristen fĂ€llt es schwer, ihr Handy beiseitezulegen, wenn sie ins Seminar eintreten. Sehen Sie sich nur die Teenager an, wie sie ĂŒber die Straße gehen und mit der Nase am Display kleben.“[5]

Bei allen Entbehrungen und Unannehmlichkeiten macht Kardinal Pell deutlich, dass er es lĂ€ngst nicht so schlimm hat wie andere.[6] Er erfreut sich an den kleinen Dingen wie an vier StĂŒckchen Schokolade, einer heißen Dusche, seinem Fernseher und seinem Wasserkocher. Dabei geht er auf die Geschichte des vietnamesischen Kardinals Van Thuan ein, der viele Jahre in einer feuchten Zelle unter grausamen Lebensbedingungen verbringen musste.[7] Auch im Gegensatz zur Tragödie seines Freundes Jude Chen aus Shanghai und zum Billy-Doe-Schwindel in Philadelphia gleiche sein GefĂ€ngnisaufenthalt einem Urlaub.[8]

Immer wieder zeigt sich seine BodenstĂ€ndigkeit, wenn er zum Beispiel seine eigene Zelle reinigt oder freiwillig die Höfe fegt.[9] Die HofgĂ€nge betrachtet er stets als Highlight und genießt das Zwitschern der Vögel, die er jedoch nicht zu Gesicht bekommt.[10] RegelmĂ€ĂŸig nutzt der Kardinal die HofgĂ€nge dazu, verschiedene Personen telefonisch zu kontaktieren, unter anderem schreibt er in seinem Tagebuch von seinen Familienmitgliedern. Immer wieder notiert er auch die Besuche seiner AnwĂ€lte und Freunde.

Prozess

Nachdem Pell am 27.02.19 verurteilt worden war, bereiteten sein Anwaltsteam und er alles fĂŒr das Berufungsverfahren am 05. bis 06.06.19 vor dem Obersten Gerichtshof von Victoria vor. Immer wieder liest sich Pell in die AusfĂŒhrungen seiner zahlreichen Helfer ein. So findet er nicht nur regen Zuspruch vonseiten der vielen Briefschreiber weltweit, sondern auch von investigativen Journalisten, die er persönlich gar nicht kennt. So liest er mit großem Interesse die AufsĂ€tze des Journalisten Windshuttle und des Theologen Friel. Es wird durch Pells TagebucheintrĂ€ge immer wieder deutlich, dass der Prozess hĂ€tte verhindert werden können, da die WidersprĂŒchlichkeit und VerĂ€nderungen der Zeugenaussagen deutlich fĂŒr den Angeklagten sprechen. Kardinal Pell war zu den angegebenen Tatzeiten gar nicht in der Kathedrale von Melbourne. Er hĂ€tte die Tat nicht begehen können. Die sorgfĂ€ltige Recherche vonseiten der Journalisten und AnwĂ€lte fĂŒhrt zutage, dass vielmehr ein komplexeres Vorgehen dahinterstecken muss, das mit den Worten Robert Richters als „Get-Pell-Operation“ bezeichnet wird.[11] Pell ist mit seinen Ansichten der australischen Gesellschaft ein Dorn im Auge: „In Australien, wo die sĂ€kulare Minderheit sich vergrĂ¶ĂŸert und zur zweitgrĂ¶ĂŸten ‚Religionsgruppe‘ gleich nach den Katholiken entwickelt hat, fĂŒhren die Bestrebungen, das Rechtswesen von jĂŒdisch-christlichen EinflĂŒssen zu befreien, dazu, dass die Auseinandersetzungen offener und erbitterter sind, und das wiederum fĂŒhrt zu antikatholischen Positionen. Tony Abbott hatte darunter zu leiden.“[12] Pell ist als klassisches Feindbild zum Opfer geworden: „Ich war das Opfer identitĂ€tspolitischer Bestrebungen – weiß, mĂ€nnlich, in einer einflussreichen Position und Vertreter einer Kirche, deren Mitglieder niedertrĂ€chtige Dinge getan hatten und deren Leitung unter dem Verdacht stand, noch bis vor Kurzem alles vertuscht zu haben (
). Der Richter hatte mit seiner Warnung, niemanden zum SĂŒndenbock zu machen, keine Chance gegen die Feindseligkeit einer durch jahrelange Negativ-Publicity aufgestachelten Öffentlichkeit.“[13] Auch wenn ihm von verschiedenen Seiten immer wieder zugesagt wird, wie absurd das Urteil sei und viele von seiner Unschuld ĂŒberzeugt sind, wird die Berufung abgelehnt. Dabei basierte der gesamte Prozess allein auf den Zeugenaussagen der Chorknaben, von denen einer bereits verstorben ist und der andere zwanzig WidersprĂŒche in seiner Aussage enthĂ€lt. Die Zeugenaussagen anderer Beteiligter sind nicht berĂŒcksichtigt worden.

Opfer und Vergebung

Der Fall Pell ist fĂŒr die australische Kirche gravierend. Er verkörpert das „Kreuzigungs-Christentum“, wie es der Kardinal selbst formuliert. Er nimmt sein Geschick an, weil er von vielen Seiten her immer wieder die RĂŒckmeldung erhĂ€lt, welche FrĂŒchte sein Leiden trĂ€gt: „Ich glaube an die göttliche Vorsehung. Nie habe ich diese Situation gewollt, sondern alles getan, um sie zu vermeiden. Aber hier bin ich nun, und ich muss bestrebt sein, Gottes Willen zu erfĂŒllen.“[14] In den zahlreichen Briefen, die er empfĂ€ngt, werden ihm die FrĂŒchte vor Augen gefĂŒhrt, was ihn ermutigt, sein Leiden anzunehmen. So heißt es oft, dass die Zahl der Messbesucher sich in vielen Kirchen erhöht hat und dass viele kirchenferne Menschen durch seinen Fall wieder zum Glauben gefunden haben.[15] Er weiß sich zudem getragen von dem Gebet vieler Menschen auf der ganzen Welt.[16] Vor dem HochsicherheitsgefĂ€ngnis von Melbourne beten tĂ€glich Menschen fĂŒr den Kardinal.[17] Er selbst bringt immer wieder zum Ausdruck, wie wichtig das Thema Vergebung ist. Er vergibt seinem AnklĂ€ger: „Wie eine ganze Anzahl verstĂ€ndnisvoller und frommer Katholiken hat auch Schwester Therese [die GrĂŒnderin der Immaculata-Schwestern, M.S.] den Eindruck, dass der Kirche in dieser Leidenszeit viele Gnaden zufließen. Doch ihr letzter Satz ist deutlich genug: ‚Ich werde viel fĂŒr Sie beten, damit Sie denen vergeben können, die gegen Sie gesĂŒndigt haben, sodass Sie mit Ihrem Verhalten der Welt das Antlitz Jesu zeigen.‘ Sie hat recht, und ich vergebe ihnen.“

Ein insgesamt sehr beeindruckendes Zeugnis eines Unschuldigen hinter GefĂ€ngnisgittern, doch in Kontakt mit der ganzen Welt, die solidarisch mit ihm verbunden ist. Der zweite Band wird im Dezember 2021 auf Deutsch erscheinen, was aufgrund des gelungenen ersten Bandes fĂŒr Vorfreude sorgt.

George Kardinal Pell, Unschuldig angeklagt und verurteilt. Bd. 1. Das GefĂ€ngnistagebuch. Mit einem Vorwort von George Weigel, Übersetzung aus dem Englischen von Gabriele Stein und Cornelia M. Knollmeyer, 2021 Media Maria Verlag.

 

[1] Vgl. Eintrag vom 12.05.19.

[2] Eintrag vom 03.03.19.

[3] Vgl. Eintrag vom 18.04.19.

[4] Vgl. Eintrag vom 16.04.19.

[5] Eintrag vom 07.04.19.

[6] Vgl. Eintrag vom 04.05.19.

[7] Vgl. Eintrag vom 06.04.19.

[8] Vgl. Eintrag vom 15.06.19.

[9] Z.B. Eintrag vom 05.03.19.

[10] Vgl. Eintrag vom 22.03.19.

[11] Vgl. Eintrag vom 11.05.19.

[12] Eintrag vom 18.03.19.

[13] Eintrag vom 03.05.19.

[14] Eintrag vom 09.03.19.

[15] Z.B. Eintrag vom 01.04.19.

[16] Z.B. Eintrag vom 28.05.19.

[17] Vgl. Eintrag vom 20.06.19.

Foto: Jesus Christus am Kreuz – Bildquelle: Kathnews

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