Die Rechte der unvordenklichen Tradition und die Schranken eines päpstlichen Rechtspositivismus – VI. Teil

Hauptvortrag bei der diesjährigen Paix liturgique-Tagung im Augustinianum/Rom am 28. Oktober 2022 von Dr. Peter A. Kwasniewski. Übersetzung ins Deutsche von Clemens V. Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 7. Dezember 2022 um 08:48 Uhr

VI. Teil, zugleich Abschluss: Die Natur unserer Haltung und Verbindung zur überlieferten Messe und zur liturgischen Tradition insgesamt

Wie man zu sagen pflegt, dass der Teufel außerstande ist, irgendeine menschliche Handlung zu begreifen, die der Demut entspringt, so gilt in vergleichbarer Weise von den Antitraditionalisten, dass sie unter einem folgenschweren blinden Fleck leiden. Verschuldet durch intellektuelle und moralische Beeinträchtigungen, können sie nicht erfassen, welcher Art genau der Charakter unserer Anhänglichkeit an die traditionellen Riten der Kirche und unserer Verbundenheit mit diesen Riten ist. Weil aber hier unsere eigentliche, geheime Kraftquelle liegt, die unseren Status als zahlenmäßig verschwindende Minderheit kompensiert und den damit einhergehenden, relativen Mangel an weltlichen Gütern und finanziellen Mitteln ausgleicht, möchte ich gerne in unseren Überlegungen noch für einige Augenblicke dabei verweilen: Die Tugend der Pietas, der Frömmigkeit, ist [bereits der ursprünglichen Wortherkunft und -bedeutung im Lateinischen nach, Anm. des Übersetzers] in ihrem tiefsten Sinn die Liebe, die jemand für seine Heimat in all ihrer konkreten Schönheit und Mannigfaltigkeit hegt, für die Patria oder das Vaterland, für das jemand bereit ist, zu leiden und selbst den Tod auf sich zu nehmen. Eine solche Liebe bindet uns offensichtlich auch an die Angehörigen unserer Familie, nämlich durch die vertrauten Bande der Abstammung und Herkunft, durch unsre Nähe zu ihnen, durch die Dauerhaftigkeit, die uns eint, die Hochachtung und Dankbarkeit, ja, durch die Hingabe, die wir für die Mitglieder unserer Familie empfinden.

Wir haben Pietas – oder sollten sie haben – zu dem, was unseren Hunger stillt und uns nährt, was uns belehrt und bildet und was uns aufrichtet. Wir sind Glieder in einer lebendigen Kette, die in die Vergangenheit reicht und sich in alle Zukunft erstreckt. Diese Pietas ist so tiefsinnig, dass sie kaum genau beschrieben werden kann; tiefgreifend psychologisch und tiefgehend ontologisch. Sie ist uns in Mark und Bein übergegangen und erfüllt unsere Seele – mehr eine Herzensangelegenheit denn Kopfsache. Damit will ich nicht sagen, dass man diese Verbundenheit nicht argumentativ begründen kann, wenn sie unter Druck gesetzt wird, aber Worte allein können ihr niemals gerecht werden. Wir können also sagen, dass unsere Liebe zu den traditionellen gottesdienstlichen Formen der Kirche genau dies ist: Pietas, Vaterlandsliebe zu unserer geistlichen Heimat als Katholiken des Lateinischen Ritus oder eines östlichen Ritus. Diese Pietas beseelt die Katholiken, die die Jahrtausende umspannende Liturgie der Kirche kennen und lieben. Eine Liebe, die mit der Zeit wächst, insofern man mehr und mehr eingebunden wird in die Familie der Heiligen und das Weistum der Jahrhunderte. Es geht nicht um etwas, das wir lediglich vorziehen wie in einem Süßwarengeschäft  die eine Bonbonsorte der Geschmacksrichtung der anderen. Auch geht es nicht um einen sentimentalen Trost, den wir aus selbstsüchtiger Emotion suchen. Mit der Zeit ist es schlicht eine existentielle Frage, wer und was wir als Katholiken sind, wenn wir in der liturgischen Gottesverehrung vor Gott hintreten und in dieser Gottesbegegnung mit Liebe zur Schönheit, die Gottes Heiligkeit umgleißt, erfüllt werden. Dieser Schönheit begegnen wir in der uns grandios inspirierenden Liturgie, die uns als Geschenk der Vorsehung zuteilgeworden ist.

Ein Geschenk, das wir im Novus Ordo nicht wiedererkennen können

Indem wir uns immer tiefer und inniger in der Tradition verwurzeln, können wir schlichtweg diese Gabe der Vorsehung im Novus Ordo, selbst in seiner besten Ausprägung, nicht finden, denn er ist ein anderer Ritus, eine andere Familie und Abstammungslinie, eine andere Welt. So möchte ich es jedenfalls nach jahrzehntelanger Erfahrung mit beiden Riten beschreiben, der ich langjährig in beiden Liturgien als Chorleiter tätig war – jedenfalls solange, bis ich schließlich die Diskrepanz zwischen überlieferter und neuer Liturgie einfach nicht mehr aushalten konnte.

Vater und Mutter und die Familie sind nicht austauschbar

Wir könnten die altüberlieferten Riten der Kirche genausowenig  aufgeben wie Vater und Mutter, unsere Ehemänner und Ehefrauen, unsere Söhne und Töchter. Weil wir es mit geistlichen, sittlichen und existentiellen Bindungen zu tun haben, die den Kern der Person betreffen, können wir ersehen, dass die Angriffe auf die traditionelle lateinische Liturgie dazu bestimmt sind, im großen und ganzen fehlzuschlagen, ja, sogar als Schuss nach hinten loszugehen. Weit davon entfernt, eine Schlacht um Äußerlichkeiten zu sein, geht es uns dabei um das, was dem Herzensgrund des Menschen eingeprägt ist, dem Ort, wo der Glaube Fleisch wird, Schönheit lebendig und Gebet wahrhaftig.

Wir haben eine unmittelbare Anhänglichkeit an die traditionellen Riten, die für Katholiken konstitutiv ist und dem Willen des Papstes vorausliegt. Wie zuvor schon erwähnt, gedieh die Römische Liturgie 1500 Jahre lang, ehe überhaupt ein Papst entschied, sie zu kodifizieren und zentral zu regulieren.

Ein verständliches Unverständnis

Jene aber, die außerhalb stehen, die noch nicht von diesem Geschenk gekostet haben, können uns nicht verstehen und denken, dass die Anweisung einer Autorität genügen muss oder genügen sollte, und schon lenken wir alle ein. Sie denken, es muss reichen, wenn sie uns ein wenig Latein, Brokatgewänder und Weihrauch genehmigen oder durchgehen lassen, das, was man im Englischen Smells and Bells nennt, als ob unsere Anliegen derart oberflächlich und rein gefühlsmäßig wären und wir sozusagen [aus Nostalgie oder dünkelhaftem Ästhetizismus, Anm. des Übersetzers] liturgische Materialisten. Wie töricht und blind muss man sein, so über uns zu denken! Ich werfe allerdings den Liebhabern und Verfechtern der neuen liturgischen Ausdrucksformen ihr Fehlurteil über uns, ihre Brüder, gar nicht vor, denn diese neuen Formen sind ja tatsächlich Machwerke des Augenblicks, Gebetsmaschinen, billiger Tand und Bücher, die willkürlich ausgewechselt werden können, in einem Moment verpflichtend gemacht und im nächsten wieder abgeschafft. Für derlei Dinge kann es keine tiefe, abgründige, zutiefst zu Herzen gehende und aus tiefstem Herzen kommende Hingabe geben, keine Pietas. Sie sind bestenfalls wie Kleider, die man anzieht und [wenn sie abgetragen sind oder aus der Mode gekommen, Anm. des Übersetzers] wieder ablegt.

Folglich sind die standhaften Anhänger des Novus Ordo – insbesondere, wenn sie kaum mit dem Traum Benedikts XVI. von einer wechselseitigen Bereicherung in Berührung gekommen sind – fundamental unfähig, Verständnis für ihre traditionell gesinnten Brüder zu haben. Freilich muss man auch eingestehen und sagen, dass dieser Traum Benedikts zu keinem Zeitpunkt seines Pontifikats mehr als die fromme Hoffnung war, eine neue Liturgische Bewegung anzuregen, und wenn man heute sieht, wie Papst Franziskus zelebriert, dann konnte die Vision seines Amtsvorgängers ihn offensichtlich nicht einmal ansatzweise beeindrucken oder beeinflussen, und so fahren diese Anhänger des neuen Ritus  mit unglaublichem Schwung fort, einerseits sich selbst und dem neuen Ritus jegliche Legitimation, die noch denkbar wäre, zu entziehen, andererseits aber lauter dumme Fehler zu begehen, indem sie neue Märtyrer des alten Ritus schaffen. Je mehr sie versuchen, uns zu helfen oder zu disziplinieren und je mehr sie gegen die Tradition wüten, desto mehr machen sie kostenlose Werbung für die Tradition und machen immer mehr Seelen auf die wesentlichen Fragen aufmerksam, auf die weder die progressive Ideologie noch der konservative Kompromiss Antworten hat.

Welche Einheit wollen und brauchen wir?

Lassen Sie uns zum Schluss kommen. Papst Franziskus und sein Hofstaat sagen, sie wollen Einheit im Gottesdienst der Lateinischen Kirche. Darin können wir absolut mit dem Papst übereinstimmen. Einheit ist etwas, das wir alle wollen und brauchen:

  • Einheit der Sprache: Die heilige Messe sollte in jedem Winkel des katholischen Erdkreises, wo der lateinische Ritus besteht, auch in lateinischer Sprache gefeiert werden, so dass die heilige Messe immer und überall als grundsätzlich gleich erlebt werden kann, als stets vertraut – anstatt verloren in einer Flut von Ãœbersetzungen.
  • Einheit im rituellen Vollzug: Das heilige Messopfer sollte in Schönheit und Feierlichkeit dargebracht werden, wohlgeordnet in einem festgefügten Rahmen des Gebets, innerhalb dessen ein jeder frei und zugleich tiefinnerlich beten kann – ohne chaotische Wahlmöglichkeiten oder Eigenmächtigkeiten und flüchtige Inkulturationen.
  • Einheit des Klerus: Die heilige Messe sollte auf eine feststehende, konstante und vertrauenswürdige Art und Weise gefeiert werden, strengen und jede Einzelheit sorgfältig regelnden Rubriken folgen, so dass es keinen oder nur einen geringen Unterschied macht, welcher Priester sie zelebriert und nichts davon abhängt, welchen Grad an Ehrfurcht, gutem Geschmack und theologischer Bildung er mitbringt oder nicht besitzt.
  • Einheit in der Gebetsrichtung: Die heilige Messe sollte gen Osten gehalten werden, wobei Priester und Gottesdienstgemeinde gleichermaßen ein und dieselbe Ausrichtung einhalten; als ein Leib hoffnungsvoll ausschauhaltend nach dem Herrn, der kommt – nicht eingesperrt im selbstzentrierten Zirkel eines bloß horizontalen Humanismus.
  • Einheit in der Musik: Die heilige Messe sollte mit der gleichen sakralen Musik geschmückt sein, die seit Jahrhunderten, ja, seit zwei Jahrtausenden erklungen ist, statt von einer Kakophonie zweitklassiger Nachahmungen zeitgenössischer, profaner Musikrichtungen begleitet zu werden.
  • Einheit in der Tradition: Die heilige Messe sollte in Kontinuität mit dem Gottesdienst gefeiert werden, der allen Heiligen und Sündern des Westens jahrhundertelang bekannt war, unseren Brüdern und Schwestern im Mystischen Leib, und sollte nicht aus dieser Kontinuität ausbrechen.

Das ist ein Aufruf zur Einheit, den wir alle gewiss enthusiastisch unterstützen! Er ist – wenigstens zu einem guten Teil – der Grund, weshalb wir an diesem Wochenende hier versammelt sind. Möge Unser Herr Jesus Christus, der Ewige Hohepriester, der Urheber und Vollender unseres Glaubens (Heb 12, 2), die Bemühungen traditionstreuer Katholiken weltweit segnen und vervielfachen, unsere geliebte katholische Kirche als die sichtbare Manifestation der Merkmale wiederherzustellen, die wir im Credo bekennen: unam, sanctam, catholicam et apostolicam und die derzeit so stark angefochten werden von den Mächten der Finsternis. Möge Unsere Liebe Frau lächelnd auf uns herniederblicken, auf uns, ihre Kinder in diesem Tale der Tränen!

Schlussbemerkung, Ankündigung und Hinweis des Übersetzers:

Damit ist die Veröffentlichung meiner Übersetzung dieses Vortrages für Kathnews abgeschlossen. Eine wohlwollende, stellenweise durchaus kritische Würdigung der Argumentation Kwasniewskis wird demnächst in einem eigenen Kommentar noch folgen. Frau Monika Rheinschmitt bietet einen eigenen, alternativen Übersetzungsvorschlag an: https://www.pro-missa-tridentina.org/news/images/rom2022_talk_p_kwasniewski_d_v2.pdf.

Darauf sei hier nur der Vollständigkeit halber hinwiesen, da er immerhin den einen Vorzug haben mag, die Fußnoten zu enthalten, auf deren Integration ich verzichtet habe, weil dies einen immensen Mehraufwand bedeutet und das Erscheinen der integralen Übersetzung zusätzlich verzögert hätte dadurch, dass die Fußnoten zuvor für die deutsche Übersetzung recherchiert und aufbereitet hätten werden müssen, um vollständig korrekt wissenschaftlichen Standards zu entsprechen.

Foto: Peter Kwasniewski – Bildquelle: Pro Missa Tridentina (PMT – Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus in der katholischen Kirche e.V.)

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