Die Rechte der unvordenklichen Tradition und die Schranken eines päpstlichen Rechtspositivismus – III. Teil

Hauptvortrag bei der diesjährigen Paix liturgique-Tagung im Augustinianum/Rom am 28. Oktober 2022 von Dr. Peter A. Kwasniewski. Übersetzung ins Deutsche von Clemens V. Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 6. November 2022 um 08:12 Uhr

III. Teil: Die mit Traditionis Custodes entstandene Situation und die logische Konsequenz daraus

Wenn wir die von Papst Franziskus in Traditionis Custodes aufgestellte Behauptung ernstnehmen, derzufolge es nur einen einzigen Ausdruck des Römischen Ritus gibt, hat das nicht die gewünschte Auswirkung, die alte Messe auszurangieren, sondern eher, die Daseinsberechtigung der neuen Messe auszuhebeln und ebenso – jedenfalls in dieser Sachfrage – des Papstes eigene Autorität zu untergraben. Er stellt damit ein glänzendes Beispiel für jemanden dar, der an dem Ast sägt, auf dem er selbst sitzt: Man kann nicht erklären, die liturgische Tradition der Vergangenheit reflektiere nicht länger die Theologie, ja, den Glauben der Kirche, ohne notwendigerweise die Aussage einzuschließen, diese Theologie habe sich so entschieden geändert, dass sie nicht mehr essentiell dieselbe sei. Kurz und knapp gesagt, hätte demnach die Kirche ihre Lex credendi von Grund auf geändert, was eine neue Lex orandi erforderlich gemacht habe. Aber wenn das stimmt, dann sind die neue Theologie und der neue Gottesdienst falsch und müssen zurückgewiesen werden. Die Autorität des Papstes muss wenigstens logisch konsistent und theologisch kohärent sein, und wenn es sich ganz offensichtlich anders verhält, zerstört sie sich selbst.

Wann und wie ein neuer Ritus eine gewisse Berechtigung haben könnte

Der einzige Weg, auf dem ein neuer Ritus Berechtigung haben kann, ist der, dass er vom selben Vater abstammt – Gott in seiner Vorsehung – und von derselben Mutter kommt – von der Kirche in ihrer Überlieferung. Dann gesellt er sich friedlich zu seinen älteren Brüdern, den traditionellen Riten des Ostens und des Westens. Widrigenfalls ist er ein aufbegehrender Bastard. Sagen wir dann also, Franziskus habe keine Autorität, er wäre nicht Papst? Wenn er Papst ist, sind dann seine Dokumente unbedingt lehramtlich und seine Anweisungen, zum Beispiel in einem Motu proprio, das die liturgische Gesetzgebung betrifft, erwachsen mit Sicherheit in Rechtskraft? Darauf antworte ich mit dem britischen Geistlichen Father John Hunwicke, dass der heilige John Henry Newman ein tragfähiges Prinzip angeboten hat, dieses Problem zu erklären und damit umzugehen, wenn er davon sprach, in der arianischen Krise sei die bischöfliche Autorität insoweit suspendiert gewesen, als die meisten Bischöfe nicht länger offen den katholischen Glauben an die Gottheit Christi bekannt und weitergegeben hätten.

John Henry Newman und eine kirchengeschichtliche Parallele

Father Hunwicke zufolge ist in unserer Zeit das Lehramt des Papstes analog zu demjenigen der arianischen oder semiarianischen Bischöfe und jener Bischöfe, die zu diesen Irrlehren geschwiegen haben und auf diese Weise zu deren Komplizen geworden waren, in einem Zustand der Suspendierung.

Wenigstens in bezug auf jene Bereiche, in denen der Papst auf Abwege geraten ist, sind seine Dekrete ohne Kraft und Bestand und verhüten es die inneren Mängel und Defekte, die ihnen anhaften, dass sie in Rechtskraft erwachsen. So kann man hinsichtlich einer großen Zahl von Äußerungen und Handlungen argumentieren, welche Papst Franziskus während des vergangen Jahrzehnts seines Pontifikats getätigt oder gesetzt hat.

Michael Charlier von summorum-pontificum.de erläutert diesen Punkt in einem Beitrag vom 4. Juli 2022 auf der von ihm betriebenen Internetpräsenz treffend:„Wir gehen davon aus, daß durch den von Gagliarducci zutreffend beschriebenen Regierungsstil des Argentiniers das päpstliche Lehramt sich derzeit in einem Zustand der Suspension befindet. Der Papst redet und schreibt viel – manches davon stimmt mit dem traditionellen Lehramt der Kirche überein. Anderes widerspricht ihm direkt, und wieder anderes entzieht sich wegen der ihm innewohnenden Inkohärenz einer unmittelbaren Einordnung. Mit dieser Situation umzugehen[,] ist für Katholiken zwar ungewohnt und höchst irritierend, aber keinesfalls unmöglich, und zwar ohne der von Franziskus erzeugten Illusion eines Lehramtes in ständigem Wandel‘ aufzusitzen.Sehr verkürzt gesagt: Wenn Franziskus etwas wiederholt, was die Kirche seit jeher lehrt, hören wir das gerne, ohne darin ein eigenes Lehramt dieses Papstes zu erkennen. Es ist nichts als die ungebrochene Tradition. Wo er etwas sagt, was dem überkommenen Lehramt und der Tradition direkt widerspricht, nehmen wir das bekümmert als seine persönliche Ansicht zur Kenntnis – eine Meinung, die Katholiken jedoch in keiner Weise bindet. Und wo er etwas sagt, das unverständlich oder widersprüchlich erscheint, werden wir darin – im besten Fall – einen Anstoß zum Nachdenken erkennen. Bei diesem Nachdenken über päpstliche Widersprüchlichkeiten werden wir uns jedoch auf keinen Fall von der aberwitzigen Zumutung seines Jesuitenkollegen Spadaro leiten lassen, ‚in der Theologie‘ könne ‚2 + 2 auch 5 ergeben‘. Theologie ist keine Mathematik, das ist schon richtig – aber ‚2 + 2 = 5‘ ist in jedem Fall Unsinn, Unwahrheit und daher eine Lästerung der göttlichen Ordnung. Derlei wird auch dann nicht Inhalt des kirchlichen Lehramtes, wenn es ein Papst sagen sollte.“

Der Katholik sieht sich vor eine unliebsame Wahl gestellt

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, eine Schlüsselunterscheidung anzusprechen, die Father Chad Ripperger getroffen hat. Er sagt, dass in einer Zeit, in der manche kirchliche Dokumente nicht mehr länger auch nur ,irgendeine Verbindung mit den Positionen wahren, die das Lehramt bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil bezogen hat‘, sich der Katholik vor die Wahl gestellt sieht, entweder ein Lehramtspositivist, der der Auffassung ist, was auch immer das gerade aktuelle Lehramt sagt, sei rechtgläubig [oder habe jedenfalls die Rechtsvermutung der Rechtgläubigkeit auf seiner Seite, Anm. des Übersetzers] zu sein oder ein Traditionalist, der sich an der Heiligen Schrift, an inneren und äußeren Kriterien der Tradition und am aktuellen Lehramt orientiert, um zu beurteilen, was eine korrekte katholische Denkweise zu einer bestimmten Frage ist.

Der Positivist ist alsbald bereit, seine Meinung zu ändern – im wahrsten Sinne des Wortes so weit, dass er nicht zögert, sich selbst oder jeder autoritativen Bezugsquelle der Vergangenheit zu widersprechen, einschließlich sogar dogmatischer Definitionen und unvordenklicher Monumente des Glaubens – wenn nur die aktuelle Obrigkeit sagt, er müsse dies tun, während der Traditionalist alle autoritativen Quellen empfängt und daran festhält, indem er sie gemäß der ihnen innewohnenden Bedeutung einbezieht und gewichtet, jedenfalls als dauerhaft gültige Zeugnisse der Wahrheit ansieht.

Nach dem US-amerikanischen Priester und Thomisten Ripperger müssen wir alle uns auf den Prüfstand stellen lassen und uns fragen: Glaube ich, dass das Neue notwendigerweise besser ist, weil es jetzt präsent ist, wie es Hegel sagen würde, oder weil es von uns Heutigen kommt, wie es die Sichtweise des Immanentismus ist? Oder halte ich mich lieber an die von außen bis auf mich gekommene Tradition, die die ganze Geschichte hindurch das Ergebnis der Weisheit und Bemühung aller Heiligen und der Kirche ist?

Päpstlicher als der Papst?

Wenn uns also jemand herausfordert und fragt: ;Du willst es also besser wissen als der Papst?‘, ist unsere Antwort ziemlich einfach: ;Warum fragst Du, ja, in dieser Sache wissen wir es gewiss besser‘. Gerade so wie der heilige Athanasius von Alexandria (und jeder Laie, der ihn unterstützte) es besser wusste als Papst Liberius, wie Justinian es besser wusste als Papst Vigilius, König Philipp von Valois besser als Papst Johannes XXII., wie die französischen Laien es besser wussten als Leo XIII. mit seinem Ralliement gegenüber der antiklerikalen Freimaurerregierung, so wissen es heute die traditionstreuen Laien, Priester und Ordensleute besser als Paul VI. mit seiner Liturgiereform oder Franziskus mit seinem Anschlag auf das Gemeinwohl des Volkes Gottes.

Die traditionalistische Reaktion der 1970er Jahre und unsere heutige Lage

Wir müssen nicht einmal halb so intelligent sein wie diejenigen, die uns in der Bewegung der Tradition vorangegangen sind und die seit der Mitte der 1960er Jahre vorhergesagt haben, in welches Desaster die Kirche fallen würde, wenn die Reform, in die Richtung, die Paul VI. ihr gegeben hatte, fortgesetzt würde. Heutzutage, mehr als fünfzig Jahre nach der infamen Promulgation des Novus Ordo Missae und all den anderen Neuerungen sehen wir mit unseren eigenen schockierten Augen und hören mit unseren eigenen, empörten Ohren die weltweite Katastrophe, das ganze Ausmaß der Verwüstung, die an die Stelle des katholischen Kultes getreten sind und die Millionen von Getauften davon abgebracht haben, den Glauben zu praktizieren. Keine Angst, ich werde Sie nicht mit der Art von Statistiken und Horrorgeschichten langweilen, mit denen wir alle, da bin ich mir sicher, längst nur allzu gut vertraut sind.

Zwei und Zwei bleibt Vier, auch theologisch

Offensichtlich ist die Entsprechung zur theologischen Aussage, dass Zwei und Zwei Fünf ergebe, im liturgischen Bereich die Behauptung: ‘Die liturgischen Bücher, die vom heiligen Paul VI. und vom heiligen Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgiert worden sind, sind der einzige Ausdruck der Lex orandi im Römischen Ritus.‘ Das ist natürlich ein Zitat aus Traditionis Custodes. Es ist vollkommener Unsinn, eine Unwahrheit und deswegen eine Blasphemie gegen die gottgesetzte Ordnung.

Gewohnheitsmäßiges Lügen fängt mit Notlügen an und steigert sich zu immer zahlreicheren und größeren Lügen, wie ein Felsbrocken, der den Berg hinunterrollt und immer mehr Geröll mit sich reißt. So beginnen Papst Franziskus und Kardinal Roche und all die anderen Feinde des liturgischen Erbes der Kirche mit dieser anfänglichen Trug und wollen immer mehr Wucht gewinnen, da sie letztlich anstreben, den Usus antiquior ganz und gar abzuschaffen und endgültig vom Angesicht der Erde zu vertilgen. Das Rahmenwerk dieser Dokumente, nämlich Traditionis Custodes und die Responsa ad dubia, gründet in seinem gesamten Aufbau auf der irrigen Annahme, dass die Riten der Kirche des Papstes Spielzeug wären.

Foto: Peter Kwasniewski – Bildquelle: Pro Missa Tridentina (PMT – Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus in der katholischen Kirche e.V.)

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