Die Rechte der unvordenklichen Tradition und die Schranken eines päpstlichen Rechtspositivismus – II. Teil

Hauptvortrag bei der diesjährigen Paix liturgique-Tagung im Augustinianum/Rom am 28. Oktober 2022 von Dr. Peter A. Kwasniewski. Übersetzung ins Deutsche von Clemens V. Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 2. November 2022 um 23:37 Uhr

II. Teil – Zeitumstände und Beweggründe des Konzils von Trient im Bereich der Liturgie

Ich behaupte nun mitnichten, es habe keine Dringlichkeit bestanden, die nach dem Konzil von Trient verlangt hatte und nach den zentralisierenden Maßnahmen eines heiligen Pius‘ V., sondern weise vielmehr lediglich darauf hin, dass wir an Dreivierteln der Kirchengeschichte ablesen können, wie die Liturgie Mitgift der ganzen Kirche war und als der ganzen Kirche gehörend betrachtet wurde. Sie war dadurch nicht etwa jedermanns Besitz, mit dem man machen konnte, was man wollte, zum Beispiel die Liturgie von Grund auf ändern oder sie in ihrer gegebenen Gestalt abschaffen. Aber sie war sehr wohl eines jeden geschütztes Vorrecht und Erbe, mit dem Anspruch darauf, es zu erhalten und mit der Verpflichtung dazu, es zu bewahren und ungeschmälert weiterzureichen.

Gewiss kann der Papst sich selbst in diesen Prozess einbringen, jedoch unter der ausdrücklichen Voraussetzung, dass er, bevor Oberhaupt der Kirche zunächst selbst ihr Glied ist und als solches die Liturgie der Kirche empfängt. Als Kirchenoberhaupt hat er zuallererst den Status Ecclesiae intakt aufrechtzuerhalten und kann deshalb nicht die Liturgie behandeln, als ob sie sein Privateigentum wäre. Das ist auch die Erklärung dafür, warum einige ältere Autoren sagen, der Papst werde schismatisch, wenn er einen Angriff auf die Riten der Kirche unternimmt. Es geht dabei nicht um die Frage, ob etwas (gerade noch so) im sakramentalen Sinne gültig ist. Wer sich damit zufriedengibt oder in einer bejahenden Antwort bereits alles, was er als wesentlich erachtet, gewährleistet finden würde, würde damit eine letztlich materialistische, reduktionalistische Mentalität unter Beweis stellen.

Im Gegenteil geht es um den ehrwürdigen Bestand der Riten in den Augen Gottes und der Kirche, die diese Riten in ihrer Integrität mit einem gewissen Vorrang vor jedem [kursiv im englischen Original, Anm. des Übersetzers] Glied der Kirche ausstattet. Deswegen sollte jeder Katholik jemanden wie Alexander VI. als Papst einem Paul VI. oder Franziskus ohne zu zögern eindeutig vorziehen. Alexander mag moralisch gesprochen ein schlechter Mensch gewesen sein, aber er wagte nicht, die traditionellen Riten der Kirche anzutasten und zelebrierte die Liturgie mit Achtung vor den Riten und Rubriken so, wie es jeder gläubige Katholik tun würde.

Modernes Unverständnis dafür, was Tradition überhaupt ist

Ich gehe davon aus, dass wir es mit dem für die Moderne typischen Unvermögen zu tun haben, das sich bis zur Aufklärung zurückverfolgen lässt und sich in Liberalismus, Individualismus und Säkularismus äußert, das Konzept von Tradition an sich zu begreifen oder anzuerkennen. Wie sollte auch Platz sein für Paradosis oder Traditio in einem Weltbild des Nominalismus und Voluntarismus, in dem der Römische Ritus alles und nichts sein kann, wovon der Papst sagt, es sei der Römische Ritus oder es sei es nicht? Ganz ohne Rücksicht auf Kontinuität oder Bruch mit der Vergangenheit. Eine solche Sichtweise scheint vielmehr jede positive Bedeutung von Geschichte [und von Identität, Anm. des Übersetzers] für die Christenheit und die Kirche auszulöschen, indem sie nur den jeweils gegenwärtigen Moment des Hier und Jetzt sieht und ihm allein zumindest irgendein Gewicht zuerkennt.

Der Grund, warum die Päpste nicht in Übereinstimmung mit den Theorien von Franzelin oder sonstwem handelten [Johann Baptist Franzelin SJ (1816-1886) war einer der exponierten Theologen, die im 19. Jahrhundert Amt, Person und Vollmacht des Papstes monströs aufblähten; 1876 wurde der gebürtige Südtiroler dafür von Pius IX. zum Kardinal erhoben, Anm. des Übersetzers], ist, dass sie wirklich noch ein gesundes, ererbtes, quasi intuitives Gespür und Verständnis der Riten als Ausdruck des lebendigen Glaubens der Kirche besaßen und als Werk des Heiligen Geistes im Gang der Jahrhunderte. Diese Riten tiefgreifend zu verändern, würde daher nichts anderes sein, als die Stabilität der Lex credendi auszuhöhlen und sich der Gabe der Vorsehung zu verweigern. Überflüssig zu sagen, dass dies ein schweres Verbrechen wäre.

Pius V. und sein Missale

Diese Perspektive geistig vor Augen, wollen wir auf den großen Papst Pius V. zurückkommen. Das Missale Romanum, das er 1570 promulgierte, war, wie Sie alle wissen, ganz und gar kein neues Buch, sondern ein Messbuch, das autoritativ die Gesamtheit einer damals schon tausendjährigen Tradition der Kirche von Rom [genaugenommen der Römischen Kurie, Anm. des Übersetzers] verkörperte und darstellte sowie auch das dogmatische Bekenntnis des Konzils von Trient, welche beide in diesem Missale gleichsam wie in einem Schrein für alle Zeiten und Orte geborgen sind. Darum ist die Bulle Quo Primum keine bloß disziplinarische Anordnung.

Pius V. hat den Römischen Ritus der Messe kanonisiert [vergleichbar der Kanonbildung der Heiligen Schrift, Anm. des Übersetzers], ausgerechnet deshalb, weil dieser Messritus angesichts der protestantischen Irrtümer (und außerdem vieler anderer Häresien seit alter Zeit) einwandfrei den katholischen Glauben enthält und weitergibt.

Paul VI. und dessen Missale stehen dazu im Kontrast

Im Kontrast dazu hat das Zweite Vatikanische Konzil, mag es auch ein gültiges Konzil gewesen sein, unstrittig nichts definiert und keine Irrtümer dem Anathema unterworfen. Es ist daher unmöglich, den neuen Messordo Pauls VI. von 1969 als den liturgischen Ausdruck einer dogmatischen Synthese zu betrachten, zu der er das Mandat eines dogmatischen Konzils gehabt hätte.

Überdies bemerkt mittlerweile beinahe jeder, der sich damit beschäftigt, die enorme Diskrepanz zwischen dem, was das Zweite Vaticanum in seiner Konstitution über die heilige Liturgie 1963 in Auftrag gegeben hatte und dem, was Paul VI. sechs Jahre später schließlich approbiert hat. Von jedem auch nur einigermaßen objektiven und rationalen Standpunkt aus kann darum die Messe Pauls VI. nicht als die Messe des Zweiten Vatikanischen Konzils betrachtet werden.

Mehr noch: Wenn die vermeintliche Messe des Zweiten Vatikanischen Konzils derart verschieden von der Messe von Trient (oder richtiger: von der Messe der ganzen lateinischen Tradition der Westkirche) ist, dann muss die Messe Pauls VI. zwangsläufig eine falsche [kursiv im englischen Original, Anm. des Übersetzers] Liturgie sein, eine Liturgie, die abweicht von der Tradition und von dem Zeugnis, das die Heiligen, die Konzilien und Päpste gegeben haben, die zuvor immer die überlieferte Liturgie gefeiert und durch sie den einen wahren Glauben bekannt hatten.

Foto: Peter Kwasniewski – Bildquelle: Pro Missa Tridentina (PMT – Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus in der katholischen Kirche e.V.)

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