Die Rechte der unvordenklichen Tradition und die Schranken eines päpstlichen Rechtspositivismus – I. Teil

Hauptvortrag bei der diesjährigen Paix liturgique-Tagung im Augustinianum/Rom am 28. Oktober 2022 von Dr. Peter A. Kwasniewski. Übersetzung ins Deutsche von Clemens V. Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 31. Oktober 2022 um 23:47 Uhr

Vorbemerkung des Übersetzers: Kathnews freut sich, heute mit der Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung des Vortrags beginnen zu können, den Peter Kwasniewski am vergangenen Freitag zum Auftakt der 11. internationalen Romwallfahrt der Bewegung Populus Summorum Pontificum gehalten hat. Der ausführliche Vortrag wird der Lesefreundlichkeit halber in mehreren Teilen oder Folgen veröffentlicht. Dies erleichtert zudem die Übersetzungsarbeit und soll einen gleichermaßen zuverlässigen wie auch im Deutschen sprachlich qualitativ guten Text sicherstellen. Zwischenüberschriften sind zur besseren Übersichtlichkeit der schriftlichen Fassung vom Übersetzer eingefügt. Für die Rechte zur Übersetzung und Publikation im Deutschen wird Herrn Dr. Kwasniewski von Kathnews herzlich gedankt.

I. Teil: Einleitung

Immer wenn Traditionalisten einer bestimmten Festlegung des Papstes im Bereich der Liturgie widersprechen oder sich ihr widersetzen – sei es die Schaffung neuartiger liturgischer Bücher oder die schwerwiegende Einschränkung des Gebrauchs der bisher üblichen Riten – sind unsere sogenannten konservativen Kontrahenten bei der Hand, um uns mit einem Arsenal von Belegstellen anzugreifen, die sie aus Texten von Päpsten wie dem heiligen Pius X. oder Pius XII, aus dem Zweiten Vaticanum oder aus neoscholastischen Handbüchern entnommen haben, mit der Quintessenz: „Der Papst hat das Recht, die Liturgie zu ändern, diesen oder jenen Ritus nach seinem Gutdünken einzuführen und dergleichen mehr“, denn, wie das Erste Vatikanische Konzil lehrt, hat er die höchste, universale und unmittelbare Jurisdiktion über die ganze Kirche inne. Es liegt offensichtlich eine gewisse Wahrheit in einer solchen Versicherung, aber sie bestätigt bei weitem nicht so viel, wie jene, die so denken und sprechen, gern darin bestätigt sehen möchten.

Erstens impliziert jede derartige Aussage bestimmte Normen, die in ihr vorausgesetzt sind. Dass der Papst beispielsweise Riten einführen oder verändern kann, ist niemals so verstanden worden, als könne er deswegen einen Ritus überhaupt gänzlich abschaffen, etwa einen der Riten der unierten Ostkirchen, deren höchstes Oberhaupt der Papst ebenfalls ist und über die er mit universaler und unmittelbarer gesetzgeberischer und rechtlicher Autorität ausgestattet ist. Und würde er dennoch so handeln, wären die byzantinischen Katholiken vollauf im Recht, wenn sie eine solche Vorgehensweise oder Maßnahme des Papstes einfach ignorieren und fortfahren würden, als hätte sich nichts geändert. Es gibt Fälle schädlichen Gebrauchs der Autorität und auch eine regelrecht missbrauchte Autorität, und wir sind in der Lage, Kriterien anzugeben, um solche Fälle zu erkennen.

Zweitens mag der Papst die Autorität besitzen, neue Riten einzuführen, aber diese würden die überlieferten Riten ergänzen und nicht zu ihnen in Widerspruch stehen. Anders ausgedrückt: Die einzige Grundlage, auf welcher ein Papst rechtmäßig eine neue typische Ausgabe eines liturgischen Buches einführen kann, die an die Stelle der vorangegangenen Ausgabe tritt, ist gegeben, wenn zwischen dem älteren Buch und dem neuen eine offensichtliche Kontinuität besteht, so dass man ehrlicherweise sagen kann, dass es sich dabei um dasselbe Buch handelt, lediglich bereichert um neue Feste oder behutsam bearbeitet oder, indem typographische Irrtümer ausgemerzt sind und so fort. Darum können wir zu Recht sagen, dass jede Editio typica des Missale des heiligen Pius’ V. – die Editio von 1604 Clemens’ VIII., diejenige von 1634, die Urban VIII. herausgegeben hat, die, die 1884 unter der Autorität Leos XIII. erschien und schließlich jene von 1920 und Benedikt XV., ist nach wie vor immer noch ein und dasselbe Messbuch, beinhaltend denselben Römischen Ritus.

Ein Problem entsteht seit der Karwochenreform Pius‘ XII. und durch ihre Aufnahme in das MR1962

Sobald wir allerdings zu den tiefgreifenden Veränderungen gelangen, die Pius XII. den Riten der Karwoche beigebracht hat, die dann Eingang gefunden haben in die Editio typica Johannes’ XXIII., sehen wir uns bereits einer Situation gegenüber, die ein ernstes Problem darstellt: Es ist unmöglich, die Ansicht zu verteidigen, die pacellinischen Karwochenriten befänden sich im wesentlichen in substantieller Kontinuität mit der organisch herangewachsenen und –gereiften, vorhergehenden Tradition.

So gibt es im Missale von 1962 salopp gesprochen bereits einen Knacks in der Struktur, wie sie zuvor gewesen war, eine kompromittierende, wesentliche Veränderung, die seinerzeit von zahlreichen Liturgikern auch als solche verstanden und ausgelegt wurde, nämlich als eine Vorwegnahme (und Einladung zu) einer noch umfassenderen und tiefgreifenderen Umstrukturierung, die noch bevorstehen sollte. Wenn wir uns erst dem Novus Ordo zuwenden, in welchem nur 13 Prozent der sogenannten euchologischen Texte, also jener Gebete, die im liturgischen Vollzug von Amts wegen dem Priester oder Bischof zukommen, mit dem Material an Formulierungen wirklich wörtlich übereinstimmen, die sich in den entsprechenden Texten im Messbuch von 1962 finden, haben wir es unbezweifelbar mit einem anderen Messbuch zu tun, in dem es zugegebenermaßen einige, allgemeine Ähnlichkeiten im äußeren Erscheinungsbild gibt, aber ganz gewiss nicht unter Wahrung derselben organischen Entwicklungslinie, in der sich die römische Liturgie bis dahin immer entfaltet hat. Wir haben nicht mehr länger ein weiteres Individuum derselben Art vor uns. Daher ist es ein neuer Messritus (und dasselbe kann von allen neuen Sakramentsriten gesagt werden) und deshalb bewirkt seine Einführung nicht die Abschaffung oder Annullierung des alten Messritus.

Der neue kommt einfach zu den Geschwistern hinzu (und ich gebe  hier damit die am meisten wohlwollende Interpretation, die noch möglich ist.) Die Vorgehensweise Pauls VI. konnte keineswegs, unter keiner Hinsicht oder wie auch immer man sie einzuordnen versuchte, einfach mit der Ablösung einer Editio typica durch die nächste gleichgesetzt werden  Wie Alfons Kardinal Stickler sagte: „Kennern der alten Liturgie kann es nicht entgehen, welch ein großer, distinkter Unterschied zwischen dem Corpus traditionum, das in der Alten Messe lebendig war, und dem ersonnenen Novus Ordo besteht – und dies zum entschiedenen Nachteil des letzteren. Seelsorger, Gelehrte und gläubige Laien haben das natürlich bemerkt, und die große Zahl der Stimmen, die dagegen opponiert haben, wuchs mit der Zeit. Es wird klarer und klarer, dass die Radikalität [ein im Deutschen etwas  verstecktes Wortspiel wird hier vorbereitet, wenn man Radikalität einmal ganz wörtlich als Wurzelhaftigkeit oder Wurzelbezogenheit versteht, Anm. des Übersetzers] der nachkonziliaren Reformer nicht darin bestand, die katholische Liturgie von ihren Wurzeln her zu erneuern (wie man es tun könnte, indem man einen wohlausgewählten Dünger anwendet), sondern indem sie ihre Wurzeln aus dem angestammten, überlieferten Erdreich ausrissen. Die Reform überarbeitete den Römischen Ritus nicht, wie es durch die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgetragen war, sondern entwurzelte ihn.“

Hyperpapalisten gehen von falschen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen aus

Die hyperpapalistischen Apologeten – also solche, die die Vorstellung verteidigen, der Papst habe eine praktisch unbegrenzte Vollmacht, Änderungen in der Liturgie vorzunehmen – liegen gerade wegen der Rahmenbedingungen falsch, unter denen sie die Diskussion führen. Damit zu beginnen, die Liturgie wie einen Patienten in Vollnarkose auf den Operationstisch zu verfrachten und den Papst in der Rolle Chefoperateur zu sehen, bedeutet, von einer grundlegenden Fehlannahme, einer falschen Voraussetzung, auszugehen, die es zwangsläufig unmöglich macht, eine Kaskade von absurden Schlussfolgerungen zu vermeiden. Da nämlich der Glaube, die Liturgie wäre ein „Spielzeug des Papstes“ (um eine farbenfrohe Formulierung des niederländischen Weihbischofs Robert Mutsaerts zu verwenden) gar nicht erst in Frage kommt, bevor irgendeine Diskussion beginnt, bedarf es keiner elaborierten Untersuchung, ob er es in die Ecke werfen und zerschmettern oder es durch ein anderes Spielzeug ersetzen darf, das ihm besser gefällt.

Die überspannten Papalisten scheinen sich eine einfache Frage wirklich nie gestellt zu haben und auch heute nicht zu stellen: Wenn das, was sie behaupten, wahr wäre, warum hat dann kein einziger Papst bis vor relativ kurzer Zeit sich so benommen, als ob es wahr wäre? Stellen wir die Frage anders, können wir sagen: Wie erklärt man die Tatsache, dass von 266 Päpsten lediglich eine Handvoll signifikante Änderungen in den liturgischen Riten vorgenommen hat, während die weit überwiegende Mehrheit vollkommen damit zufrieden war, das, was sie selbst vorgefunden und empfangen hatten, sozusagen standardmäßig konservativ weiterzugeben? Und warum finden sich die Päpste, die von allen die am meisten einschneidenden Änderungen verfügt haben, allesamt im 20. Jahrhundert, genaugenommen sogar nur in dessen zweiter Hälfte? Und wie können wir erklären, wie es kommt, dass wir, wenn wir alle Änderungen vor Paul VI. zusammennehmen und gewichten, sie, wenn wir das Bild zweier Waagschalen gebrauchen, immer noch weniger schwer wiegen als die, die Paul VI, allein und als einzelner Papst durchgedrückt hat?

Versucht man, von dem ausgehend, was die Päpste im Bereich der Liturgie getan oder zu diesem Thema gesagt haben, sofern sie überhaupt ausdrücklich darüber gesprochen haben, zu einer Beurteilung zu kommen, ist der Eindruck, den man aus der Geschichte der katholischen Kirche gewinnt, der, dass die heiligen Riten, keineswegs etwa nur das Minimum von Materie und Form der Sakramente, ein geheiligtes Erbe darstellen, das man in Ehren zu halten und dem man in Demut zu folgen hat. Die Idee, dass ein Papst, insbesondere nach einer langen Zeit der Stabilität und Unveränderlichkeit, neue Riten am Reißbrett entwerfen könnte, war schlicht undenkbar. Das Problem, das ich deswegen mit einigen der heutigen Apologeten habe, die die alten Scholastiker ausgraben und uns lang und breit erzählen, wie der Papst praktisch alles, was er will, mit der Liturgie anstellen kann, ist, dass beide – die Apologeten und die Scholastiker – sich in diesem Punkt wie Intellektuelle im Elfenbeinturm benehmen, die einen theoretischen Grundsatz verteidigen, der sich, gemessen an den Tatsachen, die der historische Befund und das Leben der Kirche bieten, wirklich als bedeutungslos  [kursiv im englischen Original, dort steht die Vokabel irrelevant, Anm. des Übersetzers] erweist.

Wenn ein Papst alles an einem Sakrament geändert hätte, hätte er sich auch dann, wenn Materie und Form unangetastet geblieben wären, dennoch unzweifelhaft ein vollständiges Verdammungsurteil zugezogen, sowohl unter ekklesiologischer, anthropologischer und geistlicher Hinsicht als auch unter jedem anderen, denkbaren Gesichtspunkt. Ungeachtet, welche Argumente er auch immer vorgebracht hätte, um seine vermeintliche Autorität, so zu handeln, zu untermauern. Ebensowenig hätte das christliche Volk in seinen gesünderen Tagen so etwas unwidersprochen hingenommen, bevor nämlich die mentale Zerfallserscheinung des Hyperpapalismus die Gehirne der Gläubigen ebenso wie die der Päpste mit einem Rechtspositivismus angesteckt hatte, der gleichermaßen ihre Geistesverfassung und ihre Herzensbildung zersetzte.

Sollten wir die Tatsache nicht ernster nehmen, dass fünfzehn Jahrhunderte lang (das ist eine einigermaßen lange Zeit, Sie wissen schon) die Kirche fähig war, in ihrem liturgischen Leben voranzuschreiten, ohne an einem zentralistisch betreuten und päpstlich promulgierten Missale Bedarf zu haben? Die Christenheit sah 1500 Jahre lang zehntausende Messbücher auf zehntausenden Altären aufgeschlagen, die von einer Generation zur nächsten von Hand kopiert und weitergegeben worden waren, ohne, bildlich gesprochen, zuvor ein Nihil obstat oder Imprimatur vom Papst in Rom eingeholt oder erhalten zu haben.

Foto: Peter Kwasniewski – Bildquelle: Pro Missa Tridentina (PMT – Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus in der katholischen Kirche e.V.)

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