Die Originalität des II. Vatikanischen Konzils und die nachkonziliare Kirche

Ein Kommentar von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 7. Oktober 2012 um 02:52 Uhr
Petersdom

Wenige Tage vor dem fünfzigsten Jahrestag der feierlichen Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils hat der Erzbischof von Mailand, Angelo Kardinal Scola, im Osservatore Romano vom 4. Oktober 2012 einen interessanten Beitrag zur Konzilshermeneutik veröffentlicht. Am gleichen Tag wurde die Ausstrahlung eines neuen Radio-Interviews des Senders NDR Kultur mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, angekündigt und dabei inhaltlich bereits vorab bekannt.

Konzil als Ereignis

Vielfach wurde das II. Vaticanum als „Ereignis“ gewertet. Das ist der Ausgangspunkt in Kardinal Scolas Beitrag. Der Ereignischarakter des Konzils ist zugleich die Grundannahme der „Schule von Bologna“. Jedes Konzil ist ein Ereignis der Kirchengeschichte, das II. Vaticanum ohne Zweifel epochal. Diejenigen, die das Konzil als Ereignis verstanden, taten dies oftmals, um über die Texte hinausgehen zu können, letztlich, um die Texte hinter sich zu lassen, ja, sie in gewisser Weise zu überwinden. Das war zuerst schon das Schicksal der vorbereiteten Schemata gewesen, sollte aber jetzt auch die Konzilstexte selbst erfassen. Das Konzil sei Reformereignis, als solches aber eigentlich erst Reformimpuls, nicht selbst Reformgeschehen, sondern dynamischer Anstoß dazu.

Über die Texte hinweg sei die Dynamik der Reform das Spezifikum des Konzils. Diese Dynamik stoße einen Prozess an, der künftig sozusagen die Lebensform und konkrete Existenzweise der Kirche sei beziehungsweise sein werde. In diesem Sinne könnte man dann tatsächlich von einer „nachkonziliaren Kirche“ sprechen. Die Kirchengeschichte ist eine Geschichte der Konzilien. Insofern sind die Bezeichnungen vor- und nachkonziliar zur Verdeutlichung eines historischen Zeitstrahls letztlich ungeeignet, nachkonziliar ist prinzipiell immer schon wieder vorkonziliar, auch wenn Konzilien Jahrhundertereignisse sind, die einander nicht nahtlos ablösen, sondern jeweils große Zeiträume prägen.

Nachkonziliar: Chronologie oder Charakteristikum?

Wenn nach dem II. Vaticanum von nachkonziliarer Kirche gesprochen wurde, war indes offenbar meist etwas anderes gemeint. Das Konzil sollte nur der Anfang von etwas neuem gewesen sein, dieser Anfang aber strenggenommen selbst schon wieder beziehungsweise eigentlich noch dem Vorherigen angehören. Reformgeschehen verstand sich in diesem Kontext als offener Prozess, wie gesagt als Lebensform und Existenzweise der Kirche. „Nachkonziliar“ bezeichnete nicht so sehr eine zeitliche Einordnung und Abfolge, sollte vielmehr künftig Wesensmerkmal der Kirche sein. Dann ginge es also an sich nicht um die richtige Lesart des Konzils, die Kirche würde demnach eher, mit ganz modernen Begriffen des Unternehmensmanagements ausgedrückt, zum Objekt und Subjekt von Changementprozessen oder selbst zu einem einzigen großen Changementprozess. Doch: Wie changementtauglich sind Dogmen?

Konzil als Einheit von Subjekt, Ereignis und Ergebnis

Wenn Kardinal Scola sagt, dass die Kirche die eigentliche Protagonistin des Konzils sei, dann will er Ereignis und Ergebnis des Konzils verbinden, das heißt vor allen Dingen, die Konzilstexte als ein solch verbindliches Ergebnis anerkennen. Indem es die Kirche ist, die als einheitliches Subjekt das Konzil sozusagen getragen hat, stehen dann die Texte trotz ihrer Stufung und Rangordnung nicht beziehungslos und unverbunden nebeneinander, sondern finden als Dokumente ein und desselben Subjektes Eingang in ein strukturiertes Textcorpus. Auch das wieder kann sinnvoll heißen, dass man das Konzil als ganzes erkennen muss: in der Einheit, die seine Texte als Textcorpus besitzen. Das ganze Konzil anzuerkennen heißt dann erstens Anerkennung der Einheit des Konzils als Ereignis und Ergebnis, zweitens Anerkennung der Texte in ihrem Zusammenhang als Corpus. Für diejenigen, die nicht einmal sosehr einen Gegensatz zwischen vorkonziliar und nachkonziliar sehen wollen, sondern eigentlich noch viel schärfer zwischen konziliar und nachkonziliar, bedeutet Anerkennung des II. Vaticanums als ganzes, dass sie akzeptieren müssen, dass Subjekt, Ereignis und Ergebnis des Konzils nicht voneinander getrennt oder gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Konzilstexte als Textcorpus

Wenn hingegen von den Piusbrüdern verlangt wird, das ganze Konzil anzuerkennen, dann kann diese Forderung ebenfalls eine akzeptable Bedeutung erhalten, wenn sie meint, dass die Konzilstexte in ihrer Gesamtheit, eben als Textcorpus, anzuerkennen sind. Die Verbindung, die die Texte in diesem Corpus haben und durch die sie überhaupt ein Corpus bilden, würde aber missverstanden, wenn sie so aufgefasst würde, als hebe sie nachträglich die gestufte Rangordnung der Texte untereinander auf, alles habe plötzlich ein- und denselben Rang an Verbindlichkeit und Gewicht. Das kann nicht zutreffend gemeint sein, denn die Einheit des Textcorpus ergibt sich gerade durch die Struktur seiner Zusammenfügung, diese Struktur aber aus der Rangordnung der Texte. Man kann also ohne weiteres das ganze Konzil als Textcorpus anerkennen, ohne deswegen die theologische Debatte beenden zu müssen. Beides wird leicht überdeckt durch die Forderung nach „Anerkennung“ auf der einen Seite und die Rede vom „ganzen Konzil“ auf der anderen.

Theologisch verantwortungsvoll darf die Struktur des Textcorpus nicht durch nachträgliche Anhebung aller Texte auf einem einheitlichen Maximalniveau nivelliert werden. Ausgerechnet das würde die Originalität des II. Vaticanums einebnen und seine Unverwechselbarkeit ausradieren. Dieser falsche Eindruck wird regelrecht verschärft, wenn wie im Radiointerview mit NDR Kultur davon gesprochen wird, die Piusbrüder seien keine Verhandlungspartner Roms, weil über den katholischen Glauben nicht verhandelt werden könne oder dieser keine Kompromisse kenne und es deshalb keine weiteren Gespräche mehr geben werde. Aus Mortalium animos wissen die Piusbrüder allzu gut, dass der Glaube „nicht auf die Ebene der Diskussionen herabgezogen werden darf.“ Sie sind auch die letzten, die in Glaubensfragen Kompromisse zu schließen bereit sind. In diesem Punkt scheint die Mentalität Erzbischof Müllers regelrecht mit einer, die in der Piusbruderschaft weit verbreitet ist, deckungsgleich zu sein.

Beide Seiten dürfen nicht Kompromisslosigkeit in Glaubensfragen damit verwechseln, dass es gestufte theologische und lehramtliche Verbindlichkeiten gibt, die keineswegs im Widerspruch zu Einheitlichkeit und Zusammenhang der Aussagen des Lehramts allgemein oder speziell des Lehramts während Vaticanum II und danach stehen, sondern vielmehr diese Aussagen untereinander in einen einheitlichen Zusammenhang bringen und strukturieren. Die größere Sorge sollte eigentlich die sein, dass ein „nachkonziliarer Habitus“ im Leben der Kirche sich nicht etwa nur gegen eine gesamtkirchliche Tradition stellt (was bei obligatorischer Reformhermeneutik im Sinne Benedikts XVI. insgesamt nicht geschehen könnte), sondern fünfzig Jahre nach dem Konzil letztlich gegen das Konzil und seine Texte und damit durchaus auch gegen gesamtkirchliche Tradition gerichtet sein kann.

Mit anderen Worten: Nicht bloß unverbesserliche Traditionalisten müssen das ganze Konzil (und die Gesamtheit aller Konzilien) anerkennen, die ganze Kirche muss dies tun. Für den überwiegenden Teil der Kirche heißt diese Anerkennung erst einmal, überhaupt und endlich zu erkennen, dass das II. Vatikanische Konzil Konzilstexte vorgelegt hat, die gestuft verbindlich sind und die durch diese Stufung zu einem Textcorpus verbunden werden, das strukturiert verbindlich ist. Diese Verbindlichkeit beendet freilich nicht theologischen Diskussionsraum und Diskussionsbedarf, sondern eröffnet und schafft ihn vielmehr. Gewiss stets im „sentire cum Ecclesia“, in der Einheit mit dem Subjekt „Kirche“.

Foto: Petersdom – Bildquelle: Radomil, CC

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