Die Kirche in der Welt als Zentralproblem des Zweiten Vatikanischen Konzils

Dokumentation eines Schreibens Benedikts XVI. im Umfeld des 60. Jahrestages der Konzilseröffnung - Eine Übersetzung aus dem Englischen von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 22. Oktober 2022 um 08:00 Uhr
Papst Benedikt XVI.

Vorbemerkung des Übersetzers: Am vergangenen 20. und 21. Oktober fand an der Franciscan University of Steuenville in Ohio die diesjährige Jahrestagung der vatikanischen Benedikt XVI./Joseph Ratzinger-Stiftung statt und widmete sich der Stellung der ekklesiologischen Frage in Ratzingers Denken. Die zeitliche Nähe zum 60. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am vergangenen 11. Oktober 2022 hat dem Grußwort, das Benedikt XVI. im Vorfeld des Symposions an den Präsidenten der US-amerikanischen Universität in Trägerschaft des Regulierten Dritten Ordens des heiligen Franziskus, Pater Dave Pivonka TOR, gerichtet hat, medial größere Aufmerksamkeit verschafft.

Dabei wurden allerdings lediglich maximal vier Sätze isoliert herausgegriffen (im folgenden durch Fettsatz kenntlich gemacht), die sich als (pauschale) Konzilseuphorie verstehen ließen. Kathnews dokumentiert im Gesamtzusammenhang eine deutsche Übersetzung des im Original englisch verfassten Briefes. So zeigt sich, dass der emeritierte Papst die Theologie und das Leben der Kirche weiterhin wach verfolgt. Bei aller Zuversicht macht aber gerade die Schlusspassage deutlich, dass das Zweite Vaticanum für Ratzinger eher ein zentrales Problem aufgezeigt hat, anstatt seine Lösung anbieten zu können und dass er das Konzil insgesamt und mit Blick auf Gegenwart und Zukunft von Kirche und Welt ziemlich nachdenklich würdigt, an sich aber ohnehin vorrangig die eigene Biographie kirchlich und theologiegeschichtlich verortet, indem er sein theologisches Schaffen rekapituliert.

„Vatikanstadt, am 7. Oktober 2022

Lieber Pater Pivonka,

es ist eine große Ehre und Freude für mich, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika, an der Franciscan University of Steubenville, ein internationales Symposion meine Ekklesiologie behandelt und so mein Denken und Bemühen in den großen Strom einordnet, in dem es sich bewegt hat.

Als ich im Januar 1946 begann, Theologie zu studieren, dachte niemand an ein Ökumenisches Konzil. Als Papst Johannes XIII. es zu jedermanns Überraschung ankündigte, gab es viele Zweifel, ob es bedeutsam sein, ja sogar, ob es überhaupt möglich sein würde, die Einsichten und Fragen in das Ganze der konziliaren Stellungnahme einzubringen und somit der Kirche für ihre weitere Reise eine Richtung zu geben. In Wirklichkeit erwies sich ein neues Konzil nicht bloß als bedeutungsvoll, sondern als notwendig. Zum ersten Male hatte sich die Frage nach einer Theologie der Religionen in ihrer Radikalität gezeigt. Dasselbe trifft zu für die Beziehung zwischen dem Glauben und der sich auf die bloße Vernunft beschränkenden Welt. Beide Themenbereiche waren zuvor in dieser Weise nicht vorhergesehen worden. Dies erklärt, warum das Zweite Vatikanische Konzil zuerst drohte, die Kirche mehr zu verunsichern und zu erschüttern, als ihr eine neue Klarheit für ihre Sendung zu geben. In der Zwischenzeit ist die Notwendigkeit, die Frage nach der Natur und Sendung der Kirche neu zu stellen, stufenweise offensichtlich geworden. So tritt allmählich auch die positive Kraft des Konzils hervor.

Meine eigene ekklesiologische Arbeit war gekennzeichnet von der neuen Situation, die sich für die Kirche in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ergeben hatte. War Ekklesiologie bis dahin im wesentlichen in institutionellen Begrifflichkeiten behandelt worden, wurde nun eine erweiterte geistliche Dimension des Konzeptes der Kirche freudig aufgenommen. Romano Guardini beschrieb diese Entwicklung mit den Worten: ,Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt. Die Kirche erwacht in den Seelen.‘ So wurde Leib Christi zum tragenden Konzept für die Kirche, was in weiterer Folge 1943 in der Enzyklika Mystici Corporis zum Ausdruck kam. Aber als [das päpstliche Lehramt, Anm. C. V. O.] sich das Konzept der Kirche als mystischer Leib Christi offiziell zu eigen machte, da hatte es zugleich seinen Höhepunkt bereits schon überschritten und wurde neuerlich kritisch bedacht. In dieser Lage dachte ich über meine Dissertation nach und schrieb sie über Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre über die Kirche. Der große Augustinus-Kongress, der 1954 in Paris veranstaltet wurde, gab mir Gelegenheit, meine Sichtweise auf Augustins Standpunkt im politischen Aufruhr seiner Zeit zu vertiefen.

Die Frage nach der Bedeutung  von Civitas Dei schien sich damals [in der Forschung, Anm. C. V. O.] schließlich zu klären. Die Dissertation von H. Scholz über Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte, herangewachsen in Harnacks Schule und veröffentlicht 1911, hatte gezeigt, dass die beiden Civitates nicht irgendwelche [konkret verfassten, Anm. C. V. O.] Körperschaften meinten, sondern eher das Auftreten der beiden Grundkräfte von Glauben und Unglauben in der Geschichte. Die Tatsache, dass diese Studie, verfasst unter der Anleitung Harnacks, mit summa cum laude angenommen worden war, sicherte ihr wie von selbst ein Vollmaß an Anerkennung. Darüberhinaus fügte sie sich in die allgemeine öffentliche Meinung, die der Kirche und ihrem Glauben einen schönen, aber harmlosen Platz zuwies. Wer immer gewagt hätte, diesen schönen Konsens zunichte zu machen, hätte nur für unbelehrbar gehalten werden können. Das Drama des Jahres 410 (die Einnahme und Plünderung Roms durch die Westgoten) erschütterte die Welt jener Zeit zutiefst und ebenso das Denken des Augustinus. Gewiss, die Civitas Dei ist nicht einfachhin identisch mit der Kirche als Institution. In dieser Hinsicht war die mittelalterliche Augustinusrezeption ein fataler Irrtum, der heute glücklicherweise endlich überwunden ist. Aber die vollständige Vergeistigung des Konzepts von der Kirche verfehlt ihrerseits die Konkretheit des Glaubens und seiner Institutionen in der Welt. So wurde die Frage nach der Kirche in der Welt beim Zweiten Vatikanischen Konzil letztlich zum eigentlichen Zentralproblem.

Mit diesen Erwägungen wollte ich lediglich die Richtung angeben, in die meine Arbeit mich geführt hat. Ich hoffe aufrichtig, dass das an der Franciscan University of Steubenville stattfindende internationale Symposion im Ringen um ein rechtes Verständnis von Kirche und Welt in unserer Zeit hilfreich sein wird.

In Christo Ihr

gez. Benedikt XVI.“

Link zur Homepage der Franciscan University of Steuenville und zum englischen Originalwortlaut:

Pope Emeritus Benedict XVI Sends Special Message to Franciscan University President.

Foto: Papst Benedikt XVI. – Bildquelle: David Bohrer, White House

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