Die katholische Kirche 1962 und 2012

Teil II: Gaudium et Spes - 50 Jahre II. Vatikanisches Konzil.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 21. August 2012 um 11:28 Uhr
Petersdom

Ein Gastkommentar von Clemens Victor Oldendorf.

Als eines der am meisten programmatischen Dokumente des II. Vaticanums gilt zu Recht die Pastoralkonstitution Gaudium et spes „über die Kirche in der Welt von heute“. Dieses Heute greift das Schlüsselwort Aggiornamento auf, unter dem Johannes XXIII. 1962 das II. Vatikanische Konzil eröffnetet hat. 50 Jahre danach sind es die Älteren in unseren Gemeinden, die sich des Konzils noch als eines Ereignisses der eigenen Jugend erinnern können; an der Spitze der Kirche des Jahres 2012 steht mit Benedikt XVI. einer der noch wenigeren, denen das Konzil ein Erlebnis der eigenen Biographie ist, ja, als Konzilsperitus hat Joseph Ratzinger damals am Konzil teilgenommen und sogar theologisch mitgestaltend auf es eingewirkt. So ist es Teil seines eigenen Lebens und seiner Lebenserfahrung geworden, und man geht sicher nicht fehl, wenn man sagt, das Konzil liege dem Papst am Herzen.

Für uns Heutige des Jahres 2012 ist das Heute des Jahres 1962 indes vielfach ein fernes Gestern, sehr oft sogar ein Termin, den wir ohne unsere Schuld schlicht verpasst haben, entweder, weil wir ihn noch nicht bewusst erleben konnten oder überhaupt noch gar nicht geboren waren. In dieser Lage ist ein 50-Jahr-Jubiläum eine spezielle Angelegenheit. Was hat uns ein solches Jubiläum zu sagen, was trägt es uns auf? Der Heilige Vater will, dass die Kirche es als ein ‚Jahr des Glaubens’ begeht. Welche Impulse gehen davon aus, wie gelingen uns Aneignung und Vergewisserung dessen, was bis heute am Konzil aussagekräftig bleibt und gültig ist?

Konzilsgedächtnis und –aneignung zwischen zwei Spannungspolen

Wenn wir unser gegenwärtiges Heute betrachten, dann bewegt sich das Konzilsjubiläum und die Konzilsrezeption irgendwie zwischen zwei eigentĂĽmlich spannungsgeladenen Polen. Auf der einen Seite sind da immer noch diejenigen Katholiken oder sogar wieder da – und zwar sehr agil und jugendlich -, die mit dem II. Vatikanischen Konzil so ihre Probleme haben. Man muss wahrscheinlich sogar zugeben, dass es diejenigen sind, die diesen kritischen Blick auf das Konzil werfen, die sich heute noch am intensivsten mit seinen Texten auseinandersetzen. Von diesen Traditionalisten verlangt man aktuell, wie man sagt, das Konzil „voll und ganz anzuerkennen“. Sehr oft, vielleicht sogar meistens, geschieht das nicht besonders theologisch argumentativ, sondern gewissermaĂźen brachialautoritär und damit wenig ĂĽberzeugend.

Auf der anderen Seite möchte der Heilige Vater diese Ăśberzeugungsarbeit leisten und hat – und sie bildet den zweiten Pol der Situation – eigentlich sein ganzes Pontifikat unter das Postulat einer „Hermeneutik der Reform oder der Kontinuität“  gestellt, die erweisen soll, dass die traditionalistischen Vorbehalte bloĂź auf Missverständnissen beruhen. Und zwar nicht nur auf traditionalistischen Missverständnissen, sondern auch auf einem falschen Verständnis und falscher Umsetzung des Konzils aufseiten derjenigen, die davon begeistert sind und ihre Begeisterung endlich fĂĽr alle in der Kirche obligatorisch machen wollen.

Hier muss betont werden, dass die Problemfrage also nicht ist, ob diese Begeisterung als obligatorische Begeisterung Berechtigung hat, sondern ob die Begeisterten vom ‚echten’ II. Vatikanischen Konzil begeistert sind. Der Papst jedenfalls sagt nein, denn er ordnet dieser Begeisterung, wenn man sie genau betrachtet, eine „Hermeneutik des Bruches“  oder der „Diskontinuität“ zu, die er als unzulässig erklärt. Er spricht nicht nur mit der Autorität seines heutigen Amtes, sondern, wahrscheinlich sachlich noch wichtiger, als Zeitzeuge und damaliger Konzilsteilnehmer. Wir selbst haben hier wiederholt die Texte des II. Vatikanischen Konzils auf ihre inhaltliche und seine gestufte formale Verbindlichkeit hin untersucht.

Diese Bemühungen, die inhaltliche und formale Verbindlichkeit der Konzilstexte zu analysieren, konnte man als einen Beitrag zu Benedikt’ XVI. Hermeneutik der Reform verstehen. Mehr noch aber haben sie der Klärung der Frage gedient, was genau unter vollständiger Anerkennung des II. Vaticanums zu verstehen sei, die anscheinend gerade von denjenigen mit Vorliebe gefordert wird, die die Konzilsaussagen selbst – zumindest unbewusst – auf ihre eigentlichen Neuansätze beschränken, in denen das Konzil, trotz aller praktischen Bedeutung dieser Neuansätze, die gar nicht in Abrede gestellt werden soll, formal zumeist von geringster Verbindlichkeit ist, da es sich darin inhaltlich überwiegend nicht auf schon vorher dogmatisch Fixiertes bezogen hat.

Konzilshermeneutik ist nicht ‚ständige Diskussion über Papiere des Christlichen’

Im Abstand von fünf Jahrzehnten hat jeder Jahrestag etwas historisch Fernes an sich und kann einem sogar fremd oder entfremdet vorkommen. Deswegen ist es gut, 50 Jahre nach der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils eine Aussage Joseph Ratzingers ins Gedächtnis zu rufen, die er zehn Jahre nach der Eröffnung des Konzils, 1972, also nur sieben Jahre nach Beendigung des Konzils gemacht hat (zitiert nach Tondokument: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/katholische-welt/online-joseph-ratzinger-uebder-das-zweite-vatikanische-konzil-1972_x100.html, abgerufen am 11. August 2012) und wo er sagt:

„Konzilien sind ab und zu eine Notwendigkeit, aber sie bezeichnen immer eine außerordentliche Situation in der Kirche und können nicht als das Modell ihres Lebens überhaupt oder gar als der ideale Inhalt ihres Daseins angesehen werden. Sie sind Medizin, nicht Nahrung. Die Medizin muss assimiliert und ihre immunisierende Kraft im Körper bewahrt werden, aber im übrigen beweist sie ihre Wirkung gerade dadurch, dass sie überflüssig wird und ein Ausnahmefall bleibt. Wenn ‚Konzil’ zum Modell des Christlichen überhaupt wird, dann erscheint die ständige Diskussion über Papiere des Christlichen als der Inhalt des Christseins selbst, aber gerade dann ist der Sinn des Christseins verkannt.“ Im Epilog von Ratzingers Theologischer Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 2005 ist dieses Zitat S. 391 wortgleich übernommen.

Die Aussage ist heute mehr denn je aktuell und beherzigenswert, denn er warnt uns vor zwei Missverständnissen des Konzilsjubiläums und ausdrĂĽcklich auch vor einem Missverständnis der „Hermeneutik der Reform in Kontinuität“, wie Benedikt XVI. sie vertritt und einfordert. Zum einen besagt Hermeneutik der Kontinuität nicht, dass ausschlieĂźliche Kontinuität behauptet und jede Diskontinuität bestritten oder als automatisch disqualifiziert abgelehnt wĂĽrde oder werden mĂĽsste.

Sodann streicht das Ratzinger-Zitat heraus, dass Konzilshermeneutik auch nicht sklavische Textanalyse sein kann, sei es, um mit aller Gewalt überall konsistente Kontinuität aufzuzeigen, sei es zum anderen, um entweder in den Texten das eigentlich ‚Neue’ des Konzils zu isolieren und zum idealisierten Auf-‚Bruch’ zu stilisieren oder aber die Texte nach diesem ‚Neuen’ zu sezieren, um alles neue pauschal unter den Verdacht des Übels oder der Häresie zu stellen. Beide (!) Vorgehensweisen wären jeweils eine Bruchhermeneutik, die Benedikt XVI. autoritativ zurückgewiesen hat.

Phänomenologische Hermeneutik des Konzils

Man darf aber vor allem nicht den Fehler machen, sich dem II. Vaticanum allzu sehr theoretisch oder theologisch anzunähern. Wenn man mit der Generation spricht, die noch die vorkonziliare Zeit und schon die Änderungen nach dem Konzil wirklich bewusst erlebt hat, dann ist in dieser Generation die deutliche Wahrnehmung spürbar, dass das Konzil eine Befreiung war, eine Last abgenommen hat; dass an die Stelle von Strenge Weite und an die Stelle von Gehorsam Eigenverantwortung getreten ist.

So ist es durchaus so, dass das Konzil in dieser Generation tatsächlich als Bruch und Befreiungsschlag empfunden wurde, und das nicht theologisch reflektiert, sondern ganz unvermittelt, konkret und praktisch. So gibt es auch gerade in dieser Generation regelrechte Allergien, wenn in der Messe einmal ein Wort Latein gesprochen wird. Die Liturgiereform steht aber gar nicht im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem II. Vaticanum oder der Auseinandersetzungen über dieses. Spätestens mit dem Motu proprio Summorum Pontificum ist dies klargestellt. Und trotzdem ist vielleicht kein Feld so sehr geeignet, das Erscheinungsbild und damit die konkrete Erfahrungswirklichkeit von ‚Kirche’ zu verkörpern wie die Gestalt und Gestaltung ihres Gottesdienstes.

Diese Einsicht eröffnet uns 50 Jahre nach dem Beginn des II. Vatikanischen Konzils den Zugang, wie ihn eine phänomenologische Betrachtungsweise bietet, für die tatsächlich Veränderung und Diskontinuität in Erscheinung und Wahrnehmung der Kirche seit dem Konzil die entscheidenden Anhaltspunkte des Verständnisses sind. Veränderungen und Diskontinuitäten, die hier gemeint sind, sind allerdings nicht einfach selbstverständliche, gesamtgesellschaftliche oder soziologisch-geschichtliche Erscheinungen der Umgestaltung während der letzten 50 Jahre, sondern genuine Akzentverlagerungen in Theologie und Leben der Kirche vor und seit dem II. Vatikanischen Konzil.

Konzilsjubiläum und Hermeneutik der Kontinuität heißt dann phänomenologisch konkret, sich unter anderem folgenden Fragen zu stellen:

– Was unterscheidet die Kirche im Jahre 2012 von derjenigen des Jahres 1962?

– Welche Veränderungen lassen sich nachweislich mit dem Konzil legitimieren, und welche dieser tatsächlich legitimierten und unaufgebbaren Veränderungen lehnt die traditionalistische Kritik trotzdem und mit welcher BegrĂĽndung ab?

– Sind diese Veränderungen nicht nur legitim im Sinne des Zulässigen, sondern konstitutiv fĂĽr Lehre und Praxis der Kirche; warum und auf welche Weise?

– Ist somit ZurĂĽckhaltung diesen Veränderungen gegenĂĽber oder ZurĂĽckweisung dieser Veränderungen tatsächlich unvereinbar mit dem Glauben und der hierarchischen Einheit der Kirche und weshalb?

Wenn diese Fragen beantwortet sind, dann kann man die 100%ige Anerkennung des II. Vaticanums verlangen und leisten. Doch die eigentliche Frage, die dem II. Vaticanum gerecht wird, muss lauten: Was unterscheidet die Kirche in der Welt von 1965 (dem Jahr, in das hinein Gaudium et spes spricht) von der Kirche in der Welt von heute, von 2012?

Nicht ‚Anerkennung’, sondern Annahme, die die Eigenart des Konzils auch heute ernstnimmt

Wenn man den Adressatenkreis von Gaudium et spes genau anschaut, kann man abschlieĂźend noch eines sagen: Anerkennung des II. Vatikanischen Konzils kann in einem bestimmten Sinn gar nicht Glaubenszustimmung, gleich welcher Art, auch nicht Gehorsam des Willens und des Verstandes (vgl.  LG 25), sein, denn Gaudium et spes, vielleicht die programmatische Vorgabe des Konzils ĂĽberhaupt, „wendet sich (…) nicht mehr bloĂź an die Kinder der Kirche und an alle, die Christi Namen anrufen, sondern an alle Menschen schlechthin, in der Absicht, allen darzulegen, wie es (das Konzil, Anm. d. Verf.) Gegenwart und Wirken der Kirche in der Welt von heute versteht (GS 2).“ Die Botschaft des Konzils richtet sich prinzipiell an alle (!) Menschen. Damit ist fĂĽr ein ganz wichtiges Dokument des Konzils, wie es die Pastoralkonstitution ĂĽber die Kirche in der Welt von heute ist, der Glaube strenggenommen gar nicht mehr vorausgesetzt. Der Inhalt der Botschaft aber ist historisch inzwischen sicherlich relativiert, weil die Welt von heute offenkundig nicht mehr die Welt von 1965 ist.

Diesen beiden Beobachtungen könnte man den Einwand entgegenhalten, Gaudium et spes richte sich als Teilmengen der ganzen Menschheit ja auch an Katholiken und die gesamte Christenheit. Bei diesen setze die Konstitution den Horizont des Christlichen voraus und erwarte wenigstens von den Katholiken zumindest den „religiösen Willens- und Verstandesgehorsam“ (vgl. LG 25). Dies mag formal zutreffen. Wenn die Konzilsväter auch sicherlich die Absicht hatten, nicht zu einer allzu kurzlebigen „Welt von heute“ zu sprechen, kann man zweifellos doch nĂĽchtern festhalten, dass die Kirche sich mit einem Unterschied von 50 Jahren schon fast zwangsläufig in einer veränderten „Welt von heute“ vorfindet.

Dies trifft umso mehr zu, als die markant zukunfts- und fortschrittsoptimistische Zeitstimmung und Epochenprognose der 1960ger Jahre, der die Konzilsväter sich in Gaudium et spes mit Verve angeschlossen hatten, vom faktischen Verlauf der Geschichte schon recht bald widerlegt worden ist. Wenn man also argumentieren wollte, Katholiken müssten Gaudium et spes sehrwohl mit religiösem Willens- und Verstandesgehorsam annehmen, dann galt das höchstens für die Katholiken der 1960ger Jahre. Für uns Katholiken des Jahres 2012 ist Gaudium et spes mehr ein interessantes Dokument der kirchlichen Zeitgeschichte oder des Selbstverständnisses der Kirche und ihrer Erwartungshaltung beim Abschluss des II. Vatikanischen Konzils.

Was trotzdem in Gaudium et spes von dauerhaftem Anspruch ist und von bleibender Dauer sein kann

Das, was wir gerade gesagt haben, würde missverstanden werden, wenn es so aufgenommen würde, dass schlechthin alle Aussagen von Gaudium et spes von Anfang an als vorläufig und relativ konzipiert worden seien. Benedikt XVI. hat in unserer zeitgenössischen Gesellschaft und Kultur von der Gefahr oder sogar schon der Realität einer ‚Diktatur des Relativismus’ gesprochen. Einem solchen Relativismus redet Gaudium et spes nicht das Wort. Es soll auch nicht behauptet werden, dass „Freude und Hoffnung“ (GS 1) mit einem Abstand von 50 Jahren einseitig und pauschal von „Trauer und Angst der Menschen von heute“ (ebd.) eingeholt worden seien. Eine solche Haltung und Wertung wäre keine konstruktive Antwort auf die Relativierung von Werten und Botschaften mit Anspruch auf Gültigkeit und normierende Kraft.

Es sollen hier genannt werden:

– die Stellung und WĂĽrde der menschlichen Person und ihres Gewissens (vgl. GS 12-22),

– Ehe und Familie (vgl. GS 47-52),

– Gesellschaft und Kultur und das Gemeinwohl (vgl. GS 26 und 36),

– Fragen sozialer Gerechtigkeit und Verantwortung (GS 71),

– Friedensengagement (GS 79-82),

letztlich also alles Fragen des allzeit gültigen und unveränderlichen Naturrechts (!).

Die Frage der Religionsfreiheit etwa stellt sich tatsächlich nicht nur konkret neu angesichts der Realität politischer Praktikabilität, sondern beruht in der neuen Antwort des Konzils eher auf dem Vorrang der Person vor dem Staat, der sich vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen mit totalitären Ideologien, in denen das Konzept menschlicher Gemeinschaft zur Vereinnahmung und Bevormundung des Einzelnen entstellt war, nahegelegt hat. Dass das Konzil das Naturrecht rezipiert hat, steht in einer langen Linie lehramtlicher Tradition. Doch wird dadurch die Wirklichkeit des Naturrechts gerade nicht zum Eigengut des katholischen Glaubens und damit zu einer Glaubensfrage. In seiner vielbeachteten und kritisierten Rede im Plenarsaal des Berliner Bundestages hat Benedikt XVI. am 22. September 2011 diese Anlage und Geltung des Naturrechts mehrfach unter Rückgriff auf das bedeutende Buch Wolfgang Waldsteins: Ins Herz geschrieben.

Das Naturrecht als das Fundament einer menschlichen Gesellschaft, Augsburg 2010 – gerade als das herausgestellt, was seine Bedeutung begrĂĽndet: dass es konsenusurales Wert- und Sollensganzes ist, das gerade keine bestimmten Weltanschauungs- oder GlaubensĂĽbereinstimmungen voraussetzt oder davon abhängt, vielmehr nicht nur in momentanen Konsens, sondern im evidenten Befund diachroner, gesamtmenschlicher Erkenntnisgemeinschaft grĂĽndet.

Wir sehen also, dass in diesen und sicher auch noch anderen Punkten das Konzil in Gaudium et spes Aussagen macht, die zeitlose und gerade dadurch stets situationsgerechte Geltung beanspruchen. Namentlich in einer christlichen Philosophie und in der Moraltheologie muss auf diese Geltung wertgelegt werden. Sie wird bestimmt nicht von einer Konzilsskepsis traditionalistischer Prägung in Zweifel gezogen. Obwohl die Aufweichung des Naturrechtskonsenses in ihren Anfängen wohl bis zur Aufklärung zurückreicht und vielleicht sogar Wurzeln bis in die Reformation hinein hat, konnte sich die Kirche in den Staatswesen und Gesellschaften der 1960iger Jahre auf einen noch sehr starken, zumindest praktischen Naturrechtskonsens mit breitem gesellschaftlichen Rückhalt stützen.

Der Mann auf der Straße hat das sicher auch damals nicht Naturrecht genannt, hatte aber verbreitet ein noch ungetrübtes, intuitives Gespür dafür, das der Evidenz des Naturrechts als Erkenntnis entsprach. Dieser Resonanzraum, den Gaudium et spes vor 50 Jahren praktisch noch gehabt haben wird, besteht mittlerweile weder praktisch noch erst recht theoretisch fort. Liest man Waldsteins Buch, wird kein Zweifel bestehenbleiben, dass der philosophische Konsens inzwischen darin besteht, sich gegenüber der Wirklichkeit des Naturrechts abzuschließen. Man könnte von einer fast einstimmigen Erkenntnisverweigerung sprechen. Fast einstimmig, weil Waldstein der Rufer in der Wüste bleibt, der Einzelgänger, der seine Stimme erhebt zugunsten der Wirklichkeit des Naturrechts und ihrer Erkenntnis.

Wir sagen dies hier, weil diese Situation die Voraussetzungen, unter denen Gaudium et spes gesprochen hat, völlig verändert. Wer einen Dialog sucht, der muss einen an Gespräch und Austausch interessierten Gesprächspartner finden. Insofern ist es zumindest 2012 längst fraglich, ob unsere „Welt von heute“ an einem solchen Dialog mit der Kirche noch Interesse und Geschmack findet. Das will man sich noch nicht eingestehen, es ist noch nicht in das Bewusstsein gedrungen oder bis jetzt erfolgreich daraus ferngehalten worden. Aber vielleicht ist es doch schon offensichtlich, wenn unsere Dialogprozesse ausgerechnet innerkirchliche sind.

Denkt man im ‚Jahr des Glaubens’ anlässlich des Konzilsjubiläums an den Mannheimer Katholikentag im Mai 2012 zurück: „Einen neuen Aufbruch wagen“, so muss das eine Hermeneutik der Reform in der Praxis bedeuten. Diese kann weder naive Konzilsnostalgie der 1960ger Jahre noch pauschale Konzilsaversion sein, sondern muss sich einer wiederum veränderten „Welt von heute“ stellen und eine Kurskorrektur vornehmen.

Foto: Petersdom – Bildquelle: Radomil, CC

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