„Die fliehende Frau“

Eine Buchbesprechung von Hans Jakob Bürger.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 4. April 2012 um 08:07 Uhr
Buchcover „Die fliehende Frau“

Der Titel des neuen Romans von Freddy Derwahl – „Die fliehende Frau“ – erinnert an die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ von Martin Walser aus dem Jahr 1977. Darin beschreibt Walser Veränderungen des menschlichen Lebens und lässt eine Figur den exemplarischen Satz sagen: „Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei.“ Auch in Derwahls Buch geht es um Freiheit. So sagt Lea, die Hauptfigur: „Ich habe einen Plan. Die Freiheit.“ Doch welche Freiheit?

Wir schreiben das Jahr 2008 und lernen einen Teil Belgiens kennen – seine Topographie, seine Geschichte. Der Roman bleibt auch an den Stellen spannend, die erzählend vom Thema abweichen, wenn sich Derwahl etwa mit dem Kinderschänder und Mörder Marc Dutroux auseinandersetzt. Die Dichte seiner Sprache lässt den Leser zunächst eintauchen in eine Welt, die ihm vertraut vorkommt. Genaue Beobachtungen und Erzählungen lassen ihn teilhaben am Geschehen – zumal einige Schauplätze des Romans, etwa das Gasthaus Entrepôt du Congo an der Ecke der Straßen Vlaamse Kaai und Burbure Straat in Antwerpen, nicht der Fantasie des Autors entsprungen sind, sondern tatsächlich existieren.

Dann zeigt Derwahl dem Leser eine fast unbekannte Welt – die des Katholischen nämlich. Eine Welt der Mönche, jener Gottsucher, die in den einsamen Wäldern in kalten Nächten ihr Leben nicht der Lust vermachen. Sie bleiben und halten ihre Einsamkeit aus, sie laufen nicht „einfach bei jedem Wehwehchen“ weg, sagt der Zisterzienser-Mönch Siluan. Diese Haltung nennen die Mönche „Stabilität“. Im Gegensatz dazu mag der Spannungsbogen unseres menschlichen Daseins, immer behaftet mit den Empfindlichkeiten des Gegenüber, darin deutlich werden, dass Lea erklärt: „Ich fliehe“ – worauf Paul erwidert: „Ich muss bleiben“. Einsamkeit sei keine Stimmungsfrage, sagt einer der Mönche.

Doch der Roman gibt keine Antwort darauf, wie Leben funktioniert und Einsamkeit Sinn erhält. Er lässt den Leser zurück. Fragend. Das Leben ist unstet, verworren, zwiespältig, es ist stürmisch. Die Tagebuchnotizen und Briefe, die Derwahl dem Roman seitenweise beigegeben hat, bestehen zum Teil aus Zitaten von Personen aus Kirche und Welt. Es werden Begebenheiten und Begegnungen geschildert, schwere Gedanken über das Leben, die Welt, Gott. Doch am Ende ist für immer „Windstille“.

„Die fliehende Frau“ ist ein Roman von fast 300 Seiten voller Leben. Die Schilderungen des prallen Lebens inmitten der Nöte, Sehnsüchte und Begierden unseres Daseins, die geradezu erlebbare und dichte Sprache sowie das Gewahr werden von scheinbar unstillbaren Sehnsüchten – Freddy Derwahl sorgt für einen Lesegenuss, welcher die Unfertigkeit, ja die Versehrtheit unseres je eigenen Lebens anspricht. Bezeichnend ist, was Lea am Fest der Unbefleckte Empfängnis sagt: „Ich bin unempfänglich befleckt.“

Derwahl, Freddy
Die fliehende Frau
Roman
ISBN 978-3-7011-7792-9
Leykam Buchverlag
gebunden, 294 Seiten
19,50 Euro

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