Die Braut Christi mit ihren vielfältigen Gesichtern – Sondierung von Querida Amazonia und Auswertung
Bemerkenswert ist, dass im Verständniszusammenhang von Inkulturation der
Traditionsbegriff erörtert
wird, wenn QA 66 erklärt: „Die Kirche muss im Amazonasgebiet mit der fortwährenden Verkündigung des Kerygmas wachsen. Dazu setzt sie sich stets von Neuem mit ihrer eigenen Identität auseinander, indem sie auf die Menschen, die Wirklichkeiten und die Geschichten des jeweiligen Gebietes hört und mit ihnen in einen Dialog tritt. So wird sich mehr und mehr ein notwendiger Prozess der Inkulturation entwickeln, der nichts von dem Guten, das in den Kulturen Amazoniens bereits existiert, außer Acht lässt, sondern es aufnimmt und im Lichte des Evangeliums zur Vollendung führt. Sie verachtet auch nicht den Reichtum der über die Jahrhunderte überlieferten christlichen Weisheit, so als ob sie sich einbildete, die Geschichte, in der Gott auf vielfältige Weise gewirkt hat, ignorieren zu können, denn die Kirche hat ein vielgestaltiges Gesicht ‚nicht nur aus einer räumlichen Perspektive […], sondern auch aus ihrer zeitlichen Wirklichkeit heraus‘. Dies ist die authentische Tradition der Kirche, die keine statische Ablagerung oder ein Museumsstück ist, sondern die Wurzel eines wachsenden Baumes. Die Jahrtausende alte Tradition bezeugt das Wirken Gottes in seinem Volk und hat die Aufgabe, ‚das Feuer am Leben zu erhalten, statt lediglich die Asche zu bewahren‘.
Tradition als vitale Wurzelkraft
Das Bild der Tradition als Wurzel eines Baumes wird mit Fußnote 86 gestützt, die ein Zitat aus dem Commonitorium des heiligen Vinzenz von Lérins bringt, welches dieses Bild selbst gar nicht sichtlich enthält: „Ut annis scilicet consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate“, aber wohl wie folgt zu übertragen ist: „So dass/damit sie (die Wurzel, Anm. C.V.O.) nämlich mit den Jahren gefestigt werde, er (der Baum, Anm. C. O. V.) mit der Zeit ausgedehnt und mit dem Lebensalter an Höhe gehoben werde.“ Zuvor wird, dies sei nur in Parenthese gesagt, auch aus dem Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland  zitiert, mit dem der Heilige Vater am Fest Peter und Paul des vergangenen Jahres bereits im voraus korrigierend in den sogenannten Synodalen Weg eingreifen wollte und damit bezeichnenderweise kaum Beachtung gefunden hat.
Die Differenzierung von Wurzel und Baum im Text ist zu begrüßen, denn demnach ist die Tradition nicht der Baum als solcher, sondern die Wurzelkraft, aus der heraus er lebt und wächst. Das ist ein anerkennenswerter Beitrag zu einem möglichen Verständnis der Rede von der lebendigen Tradition, die oft unklar und missverständlich im Munde geführt wird, denn selbstverständlich muss die Wurzel leben, darf nicht verdorrt und abgestorben sein, sie ist mit dem Baum verbunden und die Grundlage und Voraussetzung seines Wachsens und Gedeihens, nicht jedoch der Baum oder dessen Wachstum selbst. Wurzel und Baum bleiben unterscheidbar. Da der gewählte Umfang des angeführten Zitates allerdings gar nicht recht dazu passt, bleibt die Bezugnahme auf den großen Vordenker des Traditionsgriffs unter den Kirchenvätern letztlich Ornament ohne besondere Durchschlagskraft. Im Hinterkopf zu behalten wird aus QA 66 noch der nochmals erfolgende Hinweis auf das vielgestaltige Gesicht der Kirche sein, wie im weiteren Verlauf der Textanalyse hervortreten wird. Darin liegt die Verbindung von Inkulturation, Tradition, Ortskirche.
Indigene Spiritualität
In der speziellen Naturverbundenheit der indigenen Völker sieht der Heilige Vater eine eigene indigene Spiritualität ausgeprägt und sagt dazu zunächst in QA 73: „Sicherlich verdient die indigene Spiritualität einer gegenseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit alles Geschaffenen unsere Wertschätzung, diese Spiritualität der Unentgeltlichkeit, die das Leben als Geschenk liebt, diese Spiritualität einer heiligen Bewunderung der Natur, die uns mit so viel Leben überhäuft. Es geht aber auch darum, dass diese Beziehung zu dem im Kosmos gegenwärtigen Gott immer mehr zu einer persönlichen Beziehung mit jenem Du wird, das die eigene Wirklichkeit erhält und ihr einen Sinn verleihen will, zu einem Du, das uns kennt und liebt.“ In QA 74 heißt es weiter: „Ebenso steht die Beziehung zu Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, dem Befreier und Erlöser, nicht in einem unversöhnlichen Widerspruch zu dieser ausgesprochen kosmischen Weltanschauung, welche die indigene Völker kennzeichnet, denn er ist auch der Auferstandene, der alles durchdringt. Für die christliche Erfahrung ‚finden alle Geschöpfe des materiellen Universums ihren wahren Sinn im menschgewordenen Wort, denn der Sohn Gottes hat in seine Person einen Teil des materiellen Universums aufgenommen, in den er einen Keim der endgültigen Verwandlung hineingelegt hat‘. Er ist herrlich und geheimnisvoll gegenwärtig im Fluss, in den Bäumen, in den Fischen, im Wind, da er als Herr über die Schöpfung regiert, ohne je seine verklärten Wunden zu verlieren, und in der Eucharistie nimmt er die Elemente der Welt an und verleiht allem den Sinn einer österlichen Gabe.“
Diffusion Christi statt Inkarnation des Logos?
Neben seiner Enzyklika Laudato si‘ stützt der regierende Papst sich ausweislich der Fußnote 105 auf den Kolosserkommentar des heiligen Thomas von Aquin, der drei Weisen der Gegenwart Gottes anführt: Allgegenwart in allem Geschaffenen, Gnadengegenwart in den Heiligen, hypostatische Union in Jesus Christus. Die Verbindung mit der kosmischen Weltanschauung der indigenen Völker und die Bezugnahme auf den menschgewordenen Gott Jesus Christus könnte hier irreführend sein und einerseits an Martin Luther (1483-1546) denken lassen, der zur Ermöglichung seiner Impanationslehre beim Abendmahl auch eine Allgegenwart der menschlichen Natur des erhöhten Christus postulierte, andererseits an den kosmischen Christus  eines Pierre Teilhard de Chardin SJ (1881-1955). Da dieser wie Franziskus Jesuit war, ist es immerhin denkbar, dass Leser eine Beeinflussung des Papstes durch dessen Denken für möglich halten oder gewisse Interpreten auch ein Interesse an einer pästlichen Inspiration durch Teilhard de Chardin haben könnten. In dessen Konzept wird die Menschwerdung zunächst so weit abstrahiert, dass die Annahme einer konkreten menschlichen Natur durch den Logos zurücktritt vor der damit irgendwie auch gegebenen Verbundenheit mit der Menschennatur an sich. Jeder einzelne Mensch ist als Mensch natürlich auch mit der Menschheit verbunden. Das wäre auch keine Besonderheit bei Christus, wenn man davon absieht, dass er nicht irgendein, nicht näher bestimmtes Glied der Menschheit sein soll, sondern als neuer Adam deren Haupt und Repräsentant.
Inkaration meint aber die Annahme der konkreten Menschennatur Jesu von Nazareth durch die zweite göttliche Person der Trinität.
Bei Teilhard de Chardin wird die Abstraktion fortgesetzt, so dass der Logos sich letztlich mit allem Geschaffenen solidarisiert und darin aufgeht, was sogar noch die lutherische Allgegenwart Christi in seiner Menschheit sprengt. Der Logos wird Kosmos, der Kosmos zum Logos. In einer so weit getriebenen Verschmelzung kommt es letztlich zu einer Rücknahme und Auflösung der Inkarnation, zu ihrer pantheistischen Spiritualisierung oder Verdunstung.
Diese mögliche Fehlinterpretation wird bei der Sichtung dieser Textstelle von QA deshalb so genau herausgearbeitet, um eine solche Deutung auszuschließen, zumal obendrein die Formulierung des Pontifex, in der Eucharistie würden die Elemente der Welt angenommen, um sie zur österlichen Gabe zu machen, einigermaßen unpräzise ist. In der Eucharistie werden nämlich ganz bestimmte Elemente der Schöpfung, Brot und Wein, angenommen und gewandelt. Die Begrifflichkeit der österlichen Gabe ist nicht zu kritisieren, denn die heilige Kommunion ist ja das Unterpfand der künftigen Unsterblichkeit und Herrlichkeit, was die Spendeformel in der tridentinischen Liturgie so schön ausdrückt und weswegen ja das Kirchengebot der Osterkommunion besteht.
Ein kosmischer Christus würde das ganze inkarnatorische Argument des Papstes in Bezug auf eine legitime Vielgesichtigkeit der Ortskirchen aushebeln und zum Kippen bringen, jede Verleiblichung und Sichtbarkeit der Kirche würde sich nämlich, konsequent zu Ende gedacht, auflösen. Deswegen kann Franziskus hier zur Wahrung des Gesamtgedankengangs nicht in einem solchen Sinne interpretiert werden.
Gegen den Einbezug der gesamten sichtbaren Schöpfung in die Dynamik der Erlösung bestehen im Lichte von Röm 8, 19-22 keine Bedenken, es verwundert indes etwas, dass in den Fußnoten von QA kein Verweis auf diese Schriftstelle erfolgt. Wenn es vorher in der behandelten Textstelle heißt: „Er ist herrlich und geheimnisvoll gegenwärtig…“ bezieht sich dies, das muss mit allergrößter Sorgfalt beachtet werden, auf den Keim der Verwandlung, der von Jesus Christus in die ganze Schöpfung gelegt wird, nicht auf Jesus Christus selbst, schon gar nicht in der Diffusion eines kosmischen Christus auf irgendeinen ominösen Punkt Omega hin.
Foto: Petersdom – Bildquelle: M. Bürger, kathnews