Benedikt XVI. und der umgeschriebene Artikel

Von Stefan Kempis - Radio Vatikan.
Erstellt von Radio Vatikan am 22. November 2014 um 08:05 Uhr
Papst Benedikt XVI.

Dass der emeritierte Papst Benedikt XVI. einen Aufsatz von 1972 unlängst redigiert und teilweise verändert hat, führt zu mächtigem Rauschen im Blätterwald: „Damit positioniert er sich eindeutig in der aktuellen Debatte“, urteilt etwa der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf in der FAZ vom Donnerstag. Immerhin kreist der Aufsatz, an dem der Emeritus Retuschen vornahm, um die „Frage der Unauflöslichkeit der Ehe“ – und gerät damit in die derzeitige Diskussion über die Bischofssynode vom Oktober. Hat Benedikt also alle selbstauferlegte Zurückhaltung fahren lassen und sich sozusagen zurückgemeldet? Gibt es damit „zwei konkurrierende Machtzentren an der Kurie, mit Papst und Gegenpapst an ihrer Spitze“ (eine von Wolf zitierte Befürchtung)?

Fest steht, dass tatsächlich einige, denen der neue Papst Franziskus nicht so recht passt, versuchen, den emeritierten Papst für ihre Zwecke und Ansichten zu vereinnahmen. Darum ist allein der Eindruck, Benedikt XVI. lasse sich in dieses Spiel hineinziehen, durchaus schwerwiegend. Wolf sieht den „irrige(n) Eindruck, es gebe nun zwei Päpste“, auch durch die Tatsache befördert, dass der emeritierte Bischof von Rom weiter Weiß trägt und sich immer noch mit „Eure Heiligkeit“ anreden lässt. Konnte Benedikt, so fragt der Historiker, nicht einfach wieder ins Glied der Kardinäle zurücktreten, wie es im 15. Jahrhundert schon einmal zwei zurückgetretene Päpste „erfolgreich“ (Wolf) getan haben?

Wer die derzeitige Aufregung um Ratzinger-Benedikt-Heiligkeit-Emeritus aber einmal durch die Brille eines Literaturwissenschaftlers betrachtet, dem stellt sich der Fall etwas anders dar. Der vierte Band der Gesammelten Schriften Joseph Ratzingers, in dem sich der veränderte Aufsatz findet, ist mit Sicherheit kein Forum, über das ein Gelehrter wie Benedikt in aktuelle Debatten einzugreifen versuchen würde. Dies ist vielmehr eine „Ausgabe letzter Hand“, die „Summa“ eines jahrzehntelangen Forscher- und Denkerlebens. Hier geht es nicht darum zu dokumentieren, was jemand vor vierzig Jahren einmal geschrieben hat, sondern hier will ein großer Lehrer sein Erbe geordnet der Nachwelt übergeben.

Eine „Ausgabe letzter Hand“ ist keine Synopse

Schon ein Goethe schrieb für seine „Ausgabe letzter Hand“, die in den 1820er Jahren in vierzig Bänden bei Cotta erschien, viele seiner Werke noch einmal um und führte für diese vermächtnishafte Reihe sogar seinen Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ zu Ende. Einen Vergleich älterer und neuerer Fassungen will, das weiß ein Literaturkenner sehr gut, eine solche Schriftenausgabe, wie auch der emeritierte Papst sie nun vorlegt, keineswegs leisten; die Synopse ist eine Aufgabe für posthume, wissenschaftliche Editionen. Wieder einmal – ein berühmter Vorläufer ist die „Regensburger Rede“ von 2006 – wird ‚Professor Papst’ also missverstanden – und leistet er selbst einem solchen Missverstehen womöglich sogar, ungewollt, Vorschub. Es ist schlechthin nicht vorstellbar, dass der Zurückgetretene durch seine redaktionellen Arbeiten den Eindruck einer „Doppelherrschaft an der Spitze der katholischen Kirche“ erwecken will: So etwas liegt ihm fern. Der redigierte Aufsatz bildet ab, was der unabhängige Kopf Benedikt heute zum Thema Unauflöslichkeit der Ehe denkt; das macht die frühere Fassung aber nicht ungeschehen. Der Aufsatz von 1972 behält sein eigenes Recht. Er ist nicht überholt und nicht zurückgerufen.

Benedikt redigierte den Aufsatz schon lange vor der Synode

Im ĂĽbrigen setzen in der derzeitigen Debatte viele voraus, dass der emeritierte Papst seinen Aufsatz unter dem Eindruck der Bischofssynode von diesem Herbst verändert hätte. Dies ist aber, wie unsere Anfrage beim Herder-Verlag an diesem Freitag ergab, ganz und gar nicht der Fall: Eigentlich sollte der vierte Schriften-Band nach Auskunft des Verlages nämlich schon 2012 erscheinen – also noch während des deutschen Pontifikats. UrsprĂĽngliche Planungen hatten sogar ein noch frĂĽheres Erscheinen vorgesehen, doch das wurde aus verlegerischen GrĂĽnden verworfen. Dass Benedikt seinen Aufsatz von 1972 – wie einige andere Aufsätze auch – noch einmal ĂĽberarbeiten wĂĽrde, sei „immer schon“ geplant gewesen. Die jetzige Schlussfassung des Aufsatzes mit den Ăśberarbeitungen des emeritierten Papstes ist, so Herder, am 4. August 2014 beim Verlag eingetroffen; Benedikt hatte sich also schon lange vor der Synode damit beschäftigt. Es war also nicht so, als hätte der emeritierte Papst unter dem frischen Eindruck der Zwistigkeiten in der Synodenaula schnell noch die Druckerfahnen umkorrigiert, und in Freiburg wären gleichzeitig schon die Druckerpressen angelaufen.

Heiligkeit auĂźer Dienst

Nun wäre die ganze Aufregung aber gar nicht erst entstanden, hätte sich Benedikt nach seinem Rückzug vom Papstamt im Februar 2013 tatsächlich unsichtbar gemacht. Oder wäre er, wie Wolf rückwirkend vorschlägt, zum Beispiel ins Kardinalskollegium zurückgekehrt wie einst Gregor XII. im Jahr 1417 und (Gegenpapst) Felix V. im Jahr 1449. Solche Überlegungen darf man anstellen, aber sie haben etwas Wohlfeiles: Hinterher weiß man immer alles besser, und natürlich ist das Papstamt, wie der Münsteraner Historiker darlegt, kein Sakrament.

Wer aber glaubt, die Rezepte des 15. Jahrhunderts ließen sich auch im 21. Jahrhundert „erfolgreich“ wieder anwenden, der ignoriert zweierlei: Zum einen hat sich das Papsttum mit all seiner symbolischen Aufladung, moralischen Autorität und tatsächlichen Macht in den letzten Jahrhunderten (Vaticanum I!) weiterentwickelt, das schafft bei einem Rücktritt eine ganz andere Fallhöhe als damals. Zum anderen hat allein schon die Ankündigung des Rücktritts durch Benedikt 2013 – viele werden sich daran erinnern – geradezu einen Schock ausgelöst, weil seit so langer Zeit kein Papst mehr diesen Schritt gegangen war. Angesichts der in diesem Moment eingetretenen Verwirrung (die auch im Konklave des letzten Jahres spürbar war) war Benedikt XVI. vielleicht gut beraten, nicht wie durch Geisterhand von der vatikanischen Bildfläche zu verschwinden, sondern in aller Zurückhaltung doch weiterhin „im engeren Bereich des heiligen Petrus“ zu bleiben, weiter weiß gewandet, Heiligkeit außer Dienst. Den großen Knall des Rücktritts hat diese taktvoll-therapeutische Art Joseph Ratzingers gemildert.

Papst und doch nicht Papst: Das ist ein Drahtseilakt, gewiß. Aber Benedikt XVI. lässt wirklich keinen Zweifel daran, dass nicht er, sondern Franziskus der Papst ist – mit aller kirchenrechtlichen Amtsgewalt, die der argentinische Amtsinhaber selbst in seiner Schlussansprache auf der Bischofssynode ausführlich geschildert hat. Nein, in den Vatikanischen Gärten residiert kein Gegenpapst, und es liegt Benedikt fern, diesen Eindruck erwecken zu wollen: Man sollte die Ernsthaftigkeit seines Rücktritts (und erst recht die Gültigkeit) nicht bezweifeln. Aber gleichzeitig sollte man dem alten Mann aus den Gärten nicht verwehren, sich noch einmal über sein schriftstellerisches Lebenswerk zu beugen.

‚Professor Papst’: Der Papst ist zurückgetreten. Der Professor ist immer noch im Dienst.

Foto: Papst (em.) Benedikt XVI. – Bildquelle: David Bohrer, White House

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