Befremdliche Resonanz auf „Amoris Laetitia“

Das jüngste postsynodale Schreiben von Papst Franziskus bedeutet keinesweg eine Revolution, sondern ist eine insgesamt weit traditionskonformere Richtigstellung.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 16. April 2016 um 15:19 Uhr
Papst Franziskus

Ein Kommentar von Clemens Victor Oldendorf:

Das postsynodale Schreiben Amoris Laetitia, das der Heilige Vater in Form einer Apostolischen Exhortation erlassen hat, hat in sogenannten konservativen Kirchenkreisen eine für mich befremdliche, ja auf den ersten Blick unverständliche Bestürzung ausgelöst. Nicht wenige taten so, als bringe der Papst die gesamte Moraltheologie und Sakramentendisziplin mit dem Dokument zum Einsturz, um auf deren Trümmern etwas völlig neues zu errichten.

Wozu die Aufregung?

Nach der Lektüre des Textes kann man diese Aufregung eigentlich noch weniger nachvollziehen, warum sich „bloß Konservative“ oder „Neo-Konservative“, wie ich behelfsweise sagen möchte, derart eschauffieren, glaube ich allerdings jetzt schon irgendwie zu verstehen.

Ich möchte hier deshalb einfach meine eigene Einschätzung von Amoris Laetitia zur Diskussion stellen: Ich halte das Dokument insgesamt für eine Korrektur. Für die Korrektur einer Tendenz, die unter Paul VI. mit Humanae Vitae einsetzend, das gesamte Pontifikat Johannes Pauls II. gekennzeichnet hat. Eine einseitige Konzentration auf moraltheologische Fragestellungen im Umfeld von Ehe und Familie. Persönlich denke ich, dass Paul VI. dabei zumindest auch von einer gewissen Taktik geleitet war, konservative Katholiken nach dem Zweiten Vaticanum zu beschwichtigen und zu belegen, dass der Papst „ja doch noch katholisch“ war. Johannes Pauls II. Konzentration auf die Thematik scheint mir irgendwie ehrlicher, jedoch auch noch genauerer Betrachtung wert. Davon gegen Ende etwas mehr. Jedenfalls entstand von Paul VI. angefangen und während der Regierungszeit Johannes Pauls II. bei vielen ein zweifacher Eindruck. Erstens sei der sexuelle Bereich das vorrangige Feld moralischen Handelns schlechthin und zweitens sei es ein Gebiet öffentlichen Interesses, an dem außenstehende Dritte messen, beinahe überwachen, könnten und dürften, wie katholisch oder nicht katholisch ein anderer sei. Es schlich sich eine Art moralischen Leistungsdenkens ein, eine Leistung zumal, die allen voran viele fromme ältere Damen, selbst längst schon über den Zenit sexuellen Interesses oder sexueller Aktivität hinaus, bei anderen genüsslich zu beurteilen sich anmaßten, häufig in Gestalt fromm getarnten Tratschs. Dies ist selbst keine harmlose Verfehlung, sondern schlimmer Pharisäismus. Der erste Aspekt der Korrektur, die ich Papst Franziskus mit Amoris Laetitia zuschreibe, besteht darin, dass solche Leute jetzt nicht mehr meinen oder in Anspruch nehmen können, besonders gute, papsttreue Katholiken zu sein.

Objektive Sündhaftigkeit/Subjektive Sünde und Schuldhaftigkeit

Die Moraltheologie hat bei der sittlichen Beurteilung einer Handlung oder Unterlassung oder auch der Situation, in der ein sittlich relevantes Verhalten gesetzt oder zu setzen versäumt wird, objektive Kriterien bei der Hand, von denen abhängig ist, ob beispielsweise ein objektiv schwer sündhaftes Verhalten im konkreten Einzelfall überhaupt als subjektive, persönlich zuzurechnende, schwere Sünde verwirklicht wird oder zustandekommt. Andere Kommentatoren haben bei Kathnews und an anderer Stelle richtig darauf hingewiesen, dass sich bei Papst Franziskus der Akzent von den objektiven Kriterien oder einem generalisierten Ideal mehr auf den konkreten Einzelfall und die subjektiven Umstände und Bedingungen einer Verhaltensweise, die (schwer) sündhaft sein kann, verschoben habe.

Nicht Revolution, sondern insgesamt weit traditionskonformere Richtigstellung

Ich stimme diesem Eindruck zu, betrachte die genannte Akzentverschiebung aber gerade nicht als Revolution oder Neuerung unter Franziskus, sondern als Rückkehr und Normalisierung hin zu einer eigentlich weit traditionskonformeren Praxis und somit als den zweiten Aspekt der geleisteten Richtigstellung: Ehe und Familie, Sexualität insgesamt, gerade auch deren Schwäche, Grenze und Scheitern, gehören tatsächlich auch religiös einer Art Privatsphäre an, die neugierigen Blicken entzogen bleiben darf. Sie ins öffentliche Interesse zu rücken, kann im Gegenteil gleichsam fehlgeleiteter, religiös verbrämter Exhibitionismus beziehungsweise Voyeurismus sein. Papst Franziskus verweist diese Lebensbereiche zurück in den Schutzraum des Gewissens des Einzelnen und seelsorglicher Begleitung des Einzelfalls, bildlich gesprochen in den Beichtstuhl, wohin sie traditionell gehören. Man kann nun gegen diese Sicht ins Feld führen, der Begriff des „öffentlichen Todsünders“ sei sehr wohl traditionell. Das stimmt, doch setzt er meines Erachtens eine christlich oder sogar katholisch sozialisierte Öffentlichkeit voraus, die – man mag es bedauern, begrüßen oder der Tatsache neutral gegenüberstehen – in den Gesellschaften unserer Gegenwart aber nicht mehr gegeben ist.

Die Aufregung der frommen Katholiken zeigt, wie wenig Glaubenssubstanz auch bei diesen noch vorhanden ist, wenn sie denken, jetzt breche alles zusammen und sogar ein Kardinal Burke meint, einen Kernbereich des katholischen Glaubens nur retten zu können, indem er künstlich versucht, die lehramtliche Autorität von Amoris Laetitia herunterzuspielen.

Es gibt in Amoris Laetitia auch einige Schwachpunkte, über die man diskutieren kann. Matthias Gaudron, ein Priester der Priesterbruderschaft St. Pius X., hat sie sehr sachlich und bedenkenswert vorgetragen. Insgesamt halte ich das Dokument trotzdem für sehr gelungen.

Mit dem Zweiten Vaticanum hat man in der Wahrnehmung der Menschen und in der tatsächlichen Praxis in vielen Bereichen Milderungen und Erleichterungen eingeführt. Die Moral blieb scheinbar unangetastet konservativ und konsequent streng. Ich sage scheinbar, weil ich der Überzeugung bin, dass Johannes Paul II. sozusagen nur zufällig im Bereich der Moral zu gleichen oder sehr ähnlichen Resultaten gelangte wie der traditionelle, katholische Glaube, denn sein Ausgangspunkt dazu war weniger theologisch als philosophisch, nämlich personalistisch. Dem entspricht auch seine sogenannte Theologie des Leibes, die mir schon immer im doppelten Wortsinn zumindest einigermaßen merkwürdig erschienen ist.

Dass nicht alles entschieden werden muss, bedeutet nicht, jeden lehramtlichen Anspruch aufzugeben

In Amoris Laetitia 3 sagt der Papst zutreffend sinngemäß, dass nicht alles in der Kirche lehramtlich entschieden werden und einheitlich geregelt sein müsse. Ich glaube, dass das das hauptsächliche Missverständnis der Konservativen und auch mancher Traditionalisten ist: Der Felsen Petri, auf dem die Kirche ruht, müsse immer und in allen Fragen ein Monolith sein.

Noch ein Wort zum Kommunionempfang: Niemand, der sich im Stand der Todsünde weiß, soll ohne vorherige Beichte und Lossprechung zur heiligen Kommunion hinzutreten, doch jeder, der von sich ehrlichen Herzens sagen kann, dass er sich trotz all seiner Begrenzungen bemüht, ein Leben aus dem Glauben zu führen, darf im Zweifelsfalle annehmen, keine schwere Sünde begangen zu haben und soll die Eucharistie empfangen. Sie ist Stärkung der Schwachen, nicht Prämie oder Siegespreis der Starken und (vermeintlich) Vollkommenen. Aus ihrer Kraft ist es am leichtesten möglich, auch die lässliche Sünde zu überwinden und dauerhaft die schwere Sünde zu meiden.

Ergo: Ich stimme oft mit den Einschätzungen Weihbischof Bernard Fellays überein; über Amoris Laetitia weine ich nicht mit ihm.

Foto: Papst Franziskus – Bildquelle: Kathnews

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