50 Jahre „Veterum Sapientia“
Am 22. Februar 1962, wenige Montate vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, unterzeichnete Papst Johannes XXIII. in ungewöhnlich feierlicher Form die Apostolische Konstitution „Veterum Sapientia“, ĂĽber die „Weisheit der Alten“. Gemeint sind die Griechen und die Römer. „Veterum Sapientia“ war ein Lobpreis ihrer Sprachen: Griechisch und Latein. Vor allem wollte der Papst mit dieser Apostolischen Konstitution die lateinische Sprache fördern. Latein sei universal und eigne sich fĂĽr die Förderung jeder Form von Kultur unter den Völkern. Latein mĂĽsse gleichsam als „Heilige Sprache“ und als unveränderliche Sprache bewahrt und geplegt werden, so Johannes XXIII.
Latein in der Priesterausbildung
Ein besonderes Anliegen war es dem Papst, den Lateinunterricht für die Theologiestudenten zu intensivieren. Die wichtigsten theologischen Fächer an Seminaren und Universitäten sollten sogar in Latein unterrichtet werden. Das verlangte auch von den Professoren eine gründliche Kenntnis der Sprache der alten Römer. Johannes XXIII. beauftragte die Priesterseminare und Universitäten, einen Lehrplan für den Lehrberuf Latein zu erstellen, die nur in Ausnahmefällen verändert werden dürften. Niemand können zu den philosophischen und theologischen Studien zugelassen werden, der nicht über gründliche Lateinkenntnisse verfügt. Die Diözesanbischöfe wurden aufgefordert, die Förderung der lateinische Sprache in den Seminaren sicherzustellen.
Wirkungslos geblieben
Wenn man 50 Jahre nach „Veterum Sapientia“ Bilanz zieht, muss man nĂĽchtern feststellen, dass das päpstliche Schreiben vollkommen wirkungslos geblieben ist. Grundlegende Kenntnis der lateinischen Sprache (geschweige denn des Altgriechisch) ist bei Priestern und Seminaristen kaum noch vorhanden. Mitverantwortlich dafĂĽr ist auch die VerkĂĽrzung der Gymnasialzeit, die Ausdehnung des Unterrichts auf moderne Fremdsprachen und die zunehmend naturwissenschaftliche Ausrichtung der Schulen. Das hat zu einer drastischen ZurĂĽckdrängung des altsprachlichen Unterrichts (Altgriechisch und Latein) an den Gymnasien gefĂĽhrt. Die Folge ist, dass die fĂĽr das Studium der Theologie und die Zelebration der Liturgie in lateinischer Sprache sowohl nach dem Missale Romanum Papst Pauls VI., der sogenannten ordentlichen Form des Römischen Ritus, als auch gemäß der klassischen Form des Römischen Ritus nach dem Missale Romanum Pius V. bzw. Johannes XXIII erforderlichen altsprachlichen Kenntnisse nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden können. In den meisten Priesterausbildungsstätten wird der lateinischen Sprache zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Den Priesterseminaren und -konvikten sowie den Universitäten gelingt es nicht, die fehlenden oder unzureichenden Lateinkenntnisse, die an den Gymnasien hätten erworben werden mĂĽssen, in der Priesterausbildung nachzuholen. Die bei Eintritt ins Seminar und ins Theologiestudium angebotenen in zwei oder im gĂĽnstigsten Fall in drei oder vier Semestern veranstalteten Lateinkurse an theologischen Fakultäten und Priesterseminaren erweisen sich als unzureichend, wenn nicht auf diese einfĂĽhrenden Grundkurse vertiefende Aufbaukurse folgen, in denen sich der Student bzw. der Alumne durch regelmäßige Ăśbungen mit lateinischen Texten in die lateinische Sprache, insbesonere in die Latinität des Kirchenlateins, einarbeitet. Trotz „Veterum Sapientia“ bleibt nach wie vor auch 50 Jahre danach ein zweifaches Desiderat bestehen: Der Lateinunterrricht an Universitäten und Priesterseminaren muss erweitert und vertiefende Schulungskurse fĂĽr Priester in den Diözesen eingerichtet werden.
Was „1962 sozusagen ĂĽber Nacht in kirchlichem Gehorsam tatsächlich probiert und auch nach kurzer Zeit mit augenszwinkernder Toleranz der zuständigen kirchlichen Oberen wieder abgebrochen wurde, war, auf gut bayerisch gesagt, eine einzige Gaudi“, kommentiert im RĂĽckblick Otto Herman Pesch das päpstliche Schreiben „Veterum Sapientia“ (O.H. Pesch, „Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte, Verlauf, Ergebnisse, Nachgeschichte, 2. Auflage, WĂĽrzburg 1994, 83). Pesch versteht die Enzyklika als ein „beruhigendes Zugeständnis“ an die konservativen Kräfte in der Liturgievorbereitungskommission, die um den Erhalt der lateinischen Sprache in der Liturgie fĂĽrchteten. Um ihnen ihre Sorge zu nehmen, sei die „Veterum Sapientia“ verfaĂźt worden.
Das Zweite Vatikanische Konzil nicht umgesetzt
Auch bei manchen älteren Priestern sind – trotz „Veterum Sapientia“ – die einst noch an einem humanistisch-altsprachlichen Gymnasium erworbenen Kenntnisse der lateinischen Sprache in der Zeit nach dem Konzil in Vergessenheit geraten. Entgegen den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils (Sacrosanctum Concilium, Nr. 101) machten Priester es sich zur Gewohnheit, in der Nachkonzilszeit das Brevier nicht mehr auf Lateinisch zu beten und die Messe entgegen den ausdrĂĽcklichen Bestimmungen von Sacrosanctum Concilium Nr, 36 ausschlieβlich in der Landessprache zu feiern. Die dadurch preisgegebene Praxis der lateinischen Sprache ist mitverantwortlich fĂĽr deren mangelnde Kenntnis unter Klerikern, die es in unseren Tagen zu beklagen gilt.
Das Konzil wünschte den Erhalt und die Förderung der lateinischen Sprache
Dabei sind die Vorgaben des Konzils und in dessen Nachfolge die des kirchlichen Gesetzgebers deutlich. Ăśber die lateinische Sprache in der Priesterausbildung normiert der kirchliche Gesetzgeber u. a.: “In der Ordnung fĂĽr die Priesterausbildung ist vorzusehen, dass die Alumnen nicht nur in ihrer Muttersprache sorgfältig unterwiesen werden, sondern dass sie sich auch auf die lateinische Sprache gut verstehen …” (can. 249). Im Konzilsdekret „Optatam totius“ (Nr. 13) ĂĽber die Priesterausbildung bestimmen die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils: “Vor Beginn der eigentlichen kirchlichen Studien sollen die Alumnen den Grad humanistischer und naturwissenschaftlicher Bildung erreichen, der in ihrem Land zum Eintritt in die Hochschulen berechtigt. Sie sollen zudem so viel Latein lernen, daĂź sie die zahlreichen wissenschaftlichen Quellen und die kirchlichen Dokumente verstehen und benĂĽtzen können. Das Studium der dem eigenen Ritus entsprechenden liturgischen Sprache muĂź als notwendig verlangt werden; die angemessene Kenntnis der Sprachen der Heiligen Schrift und der Tradition soll sehr gefördert werden” Schlieβlich ruft das Zweite Vatikanische Konzil auch in seiner Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ unmissverständlich zum Erhalt der lateinischen Liturgiesprache auf, wenngleich zugestanden wird, dass „nicht selten der Gebrauch der Muttersprache fĂĽr das Volk sehr nĂĽtzlich sein kann“ (Sacrosanctum Concilium, Nr. 36). FĂĽr die „mit dem Volk gefeierten Messen“ wurde der Gebrauch der Muttersprachen zugestanden, „besonders in den Lesungen und im allgemeinen Gebet“ sowie „in den Teilen, die dem Volk zukommen“ und auch „darĂĽber hinaus“ (SC, 54). Weiterhin aber ist dafĂĽr zu sorgen, dass „die Christgläubigen die ihnen zukommenden Teile des Mess-Ordinariums auch lateinisch miteinander sprechen und singen können“ (SC, 54).
Zu hohe Anforderungen
Kardinal Stickler berichtete einmal von einem Gespräch, das er 25 Jahre nach „Veterum Sapientia“ 1987 in der deutschen Botschaft in Rom mit dem damaligen Kölner Kardinal Höffner gefĂĽhrt hat. Kardinal Höffner soll gesagt haben, dass einer der GrĂĽnde fĂĽr den RĂĽckgang der lateinischen Sprache in der Kirche gerade die zu hohen Anforderungen der Apostolischen Konstitution „Veterum Sapientia“ gewesen seien. Johannes XXIII. habe darin ein Programm vorgelegt, dass zwar der langen Tradition der europäischen Länder entsprach, aber zu wenig jene Länder im Blick hatte, in denen kein Latein studiert oder, trotz guten Willens, sehr oberflächlich betrieben wurde. Damit habe „Veterum Sapientia“ genau das Gegenteil erreicht von dem, was es beabsichtigte. Denn die Hierarchie in diesen verschiedenen Ländern konnte nicht anders tun als zu antworten: „Ad impossibila nemo tenetur“ (niemand ist zu etwas verpflichtet, was unmöglich ist). Hätte man das Konzilsdokument ĂĽber die Priesterausbildung, das anders als „Veterum Sapientia“ die Voraussetzungen in anderen Ländern berĂĽcksichtigte, rezepiert, dann hätte, so der Kölner Kardinal, ein Minimum der Forderungen von „Veterum Sapientia“ im Hinblick auf die Förderung und Pflege der lateinischen Sprache verwirklicht weden könnnen.
50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil
Am 21. Oktober 2012 jährt sich zum 50. Mal der Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Johannes XXIII, der am 22. Februar 1962 „Veterum Sapientia“ veröffentlich hat. Der Papst begann seine – wohl nachträglich ins Lateinische ĂĽbersetzte – Eröffnungsreden feierlich mit den drei bekannten Worten „Gaudet Mater Ecclesia“ (Es freut sich die Mutter Kirche). 50 Jahre danach steht die Kirche mit dem Pontifikat Papst Benedikts XVI. vor einer neuen Herausforderung: die kritische Reflexion ĂĽber dieses wohl größte Ereignis in der Kirchengeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das Konzil wurde auf weite Strecken nicht, kaum oder verkehrt umgesetzt. Die Ursache dafĂĽr ist vor allem die Hermeneutik seiner Texte und mancher seiner Formulierungen. 50 Jahre nach diesem kirchlichen GroĂźereignis geht es um dessen richtige Interpretation und die daraus folgenden Applikation und Rezeption. Fest steht: Die Vorgaben des Konzils im Hinblick auf die lateinische Sprache sind nicht umgesetzt worden. Man kann sich fragen, inwieweit „Veterum Sapientia“ selber mit schuldig ist an dieser Entwicklung. Hat die Apostolische Konstitution zur Förderung der lateinischen Sprache nicht eher als Bremse denn als Förderer des konziliaren Auftrages gewirkt? 50 Jahre danach stellt sich die Frage, ob es gelingt, in einer vertieften Hermeneutik der Reform in Kontinuität auch der lateinische Sprache ihren zentralen Platz im Leben der Kirche, insbesondere in der Priesterausbildung und der Liturgie, zurĂĽckzugeben.
Foto: Petersdom – Bildquelle: B. Greschner, kathnews