Latein ist durch Mathematik nicht zu ersetzen

Ein PlĂ€doyer fĂŒr Latein als Denkschule.
Erstellt von Gero P. Weishaupt am 24. August 2014 um 20:15 Uhr
Dr. Gero P. Weishaupt

Von Dr. Gero P. Weishaupt:

Wer hĂ€tte das nach der Kulturrevolution der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gedacht: Die heutige Generation unter den SchĂŒlern will wieder Latein lernen. JĂ€hrlich wĂ€hlen zirka fĂŒnf Prozent mehr Kinder Latein als Fremdsprache am Gymnasium, finden es geradezu „cool“, die Sprache zu beherrschen. Es gibt Bestseller. Man denke nur an Wilfried Strohs „Latein ist tot. Es lebe Latein“ oder „RomDeutsch. Warum wir Lateinische reden, ohne es zu wissen“ von Karl-Wilhlem Weeber. Nachrichten auf Latein bieten seit Jahren Radio Bremen und Radio Vatikan an. In Vorbereitung ist ein lateinischer Youcat. Und dann gibt es sogar lateinischen Hiphop.

Latein fordert und fördert Disziplin und Ordnung

Latein ist aber nicht nur eine Kommunikationssprache, sondern auch eine Reflexionssprache. Sie ermöglicht nicht nur einen direkten und somit unverfĂ€lschten Zugang zur Lebens- und Denkwelt der Antike als des geistigen Fundamentes des christlichen Abendlandes und unserer Zivilisation, des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. So sind die Werke eines William Harvey, des Entdeckers des großen  Blutkreislaufes, eines Hugo Grotius, des Vertreters des Naturrechtes, oder der Philosophen RenĂ© Descartes (Cogito ergo sum), Baruch de Spinoza oder Gottfried Wilhelm Leibniz, um nur einige Beispiele aus der beginnenden Neuzeit zu nennen, ohne Lateinkenntnisse nicht adĂ€quat zu erfassen. Doch daneben ist die LektĂŒre lateinisch verfaßter Texte eine Schulung des Denkens, eine Denkschule. Denn der eigentĂŒmliche lateinische Satzbau zwingt den Leser zu genauem Hinsehen, zu Klarheit, Ordnung, Struktur und Disziplin im Denken und Arbeiten. Erfordert es doch eine gewisse geistige Leistung, um verbale und nominale Wortformen genauestens zu identifizieren und richtig aufeinander zu beziehen; die in verbundenen und absoluten Partizipialkonstruktionen verschlĂŒsselten Nebengedanken mit Blick auf den Hauptgedanken eines Satzes zutreffend als temporal, final, kausal, modal oder konzessiv wiederzugeben; mehrdeutige einen Nebensatz einleitende Konjunktionen in AbhĂ€ngigkeit vom Modus des Verbs (Indikativ oder Konjunktiv) und vom Tempus des Hauptsatzes zutreffend mit dem Sinngehalt des Hauptsatzes zu ĂŒbersetzen; mehrgliedrige Satzperioden – etwa eines Cicero-Textes – exakt aufzuschlĂŒsseln. Das verlangt vom Übersetzter eine enorme Portion Konzentration, Geduld, Aufwand, Fleiß und Zeit.

Kulturhistoriker: Mathematik ersetzt Latein nicht

Im Zeitalter der Naturwissenschaften, in einer industrialisierten und zunehmend technisierten Welt ĂŒbersieht man leicht das hohe Potenzial, das dem Latein als Denkschule eigen ist. Das Erlernen einer Sprache und deren Wert wird einseitig von ihrem kommunikativen Nutzen her beurteilt. Auch wenn man im Zuge der VerĂ€nderungen und Fortschritte in technischen und wirtschaftlichen Bereichen in der Ausbildung andere Akzente setzen muss, so darf doch die Frage gestellt werden, ob eine naturwissenschaftlich-technologische und wirtschaftliche Fixierung auf Kosten altsprachlicher Sprachkenntnisse gehen darf. Ist es nicht eher so, dass eine Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlich komplizierten ZusammenhĂ€ngen eine intensive Schulung und Entwicklung der DenkfĂ€higkeit vorausgehen muss? Latein leistet hierzu einen vielleicht bisher unterschĂ€tzten Beitrag. In diesem Zusammenhang sei an eine Aussage des Kulturhistorikers Oswald Spengler hingewiesen, der feststellte: „Dem grĂŒndlichen Lateinbetrieb seiner Gymnasien wĂ€hrend des vorigen Jahrhunderts (gemeint ist das 19. Jahrhundert/Anm. von GPW) verdankt Deutschland mehr als es ahnt: seine geistige Disziplin, sein Organisationstalent, seine Technik. Die in langjĂ€hriger, tĂ€glicher pedantischer Gewohnheit des Umdenkens in die disziplinierteste Sprache, die es gibt, erworbene Art, geistig zu arbeiten, ist es, die seitdem als ererbte Tradition in Laboratorien, WerkstĂ€tten und Kantoren zur Wirkung gelangte, auch fĂŒr die, welche ohne diese unmittelbare Schulung in die Tradition beruflich hineinwuchsen. Ich halte dieses KernstĂŒck unserer geistigen RĂŒstung heute fĂŒr unentbehrlicher denn je. Es ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch das ganz mechanische Denkverfahren der Mathematik.“ Darum wird man auch und gerade in einer technisierten Industriegesellschaft und im Zeitalter der Informatik und des Internet auf die Denkschule Latein nicht verzichten können.

Erwerb von Empathie durch Latein

FĂŒr die Ausbildung kĂŒnftiger Priester kommt dem Erlernen der lateinischen Sprache nach wie vor bleibende Bedeutung zu. Nicht nur als Sprache der Liturgie – wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt (SC, 36) – in der sie gerade als fremde und alte Sprache zur „VerhĂŒllung des Mysteriums“ geeignet ist und so dem „urtĂŒmlichen Empfinden und einer unmittelbaren Ehrfurcht vor dem UnzugĂ€nglichen“ entgegenkommt „und zugleich signalisiert“ (Otto Kuss), sondern auch fĂŒr das Quellenstudium ist die lateinische Sprache unerlĂ€sslich.

DarĂŒber hinaus aber ermöglicht und fördert die LektĂŒre lateinischer Texte den Erwerb und die Aneignung einer fĂŒr den Priester wichtigen pastoralen FĂ€higkeit: der Empathie. Darunter versteht man das Vermögen, sich in eine andere Person, in deren Lebens- und Denkwelt hineinzuversetzen. Auf dem breiten Boden der Seelsorge geht es darum, den Menschen „abzuholen“, wo er steht, und ihn von dort in die Weite des Mysteriums der Offenbarung und des Heiles hinĂŒberzubringen. Das setzt beim Priester (und bei anderen, die pastorale Aufgaben in der Kirche ĂŒbernehmen) die FĂ€higkeit voraus, sich den Denk- und Lebenshorizont des anderen eigen zu machen. Das ist gemeint mit Empathie. Sie ist, wie der Name schon sagt, nicht nur ein kognitiver Prozess des Sich-Hineindenkens in die andere Person, sondern schließt auch ein affektives Einswerden mit dem anderen ein. Empathie meint den Doppelschritt des Sich-Hineindenkens und des Sich-EinfĂŒhlens. Diese zentrale fĂŒr die Seelsorge wichtige FĂ€higkeit muss gelernt und eingeĂŒbt werden. Dabei kann die BeschĂ€ftigung mit Latein von nicht zu unterschĂ€tzendem Nutzen sein. Denn bei der Übersetzung von der Ausgangssprache Latein in die Zielsprache, die eigene  Sprache, geht es darum, den Text genau zu beobachten, die SĂ€tze zu analysieren, deren Sinn zu erfassen und sich in sie hineinzudenken. Der Übersetzer muss sich den Inhalt des Gelesenen klarmachen, ihn beurteilen und schließlich kritisch und einfĂŒhlend zum Inhalt Stellung nehmen. Die Übersetzung lateinischer Texte aktiviert die GeistestĂ€tigkeiten. Der Übersetzer wird angehalten, beim Übersetzen ĂŒber den Vorgang des Übersetzens nachzudenken. „Übersetzen wird ihm als ein Akt der Kommunikation und des schöpferischen Gestaltens bewußt, demnach als eine seit je geĂŒbte GrundĂ€ußerung der zwischenmenschlichen Begegnung, als eine Leistung, die Phantasie, EinfĂŒhlungsvermögen und die FĂ€higkeit verlangt, das in der fremden Sprache Erfaßte aus dem eigenen Sprachgeist neu zu schaffen“ (Friedrich Maier).

Optatam totius, das Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils ĂŒber die Priesterausbildung, sowie der kirchliche Gesetztgeber (can. 249) schreiben vor, dass die Priesteramtskandidaten gut vertraut sein sollen mit der lateinischen Sprache (linguam latinam bene calleant). Das pĂ€pstliche Lehramt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat mehrmals die Notwendigkeit von Lateinkenntnissen in der Priesterausbildung angemahnt. Denn zum einen haben die Klassiker der abendlĂ€ndischen Theologie lateinisch geschrieben, zum anderen ist die BeschĂ€ftigung mit der lateinischen Sprache eine hervorragende Schule fĂŒr den Erwerb der fĂŒr die Seelsorger notwendigen FĂ€higkeit des Sich-Hineindenkens und Sich-EinfĂŒhlens in den anderen, der Empathie.

Foto: Dr. iur. can. Gero P. Weishaupt – Bildquelle: privat

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