Läutkultur als Leitkultur
Seit Jahrhunderten begleiten Glocken das Leben von Christen. Profanes aber besonders liturgisches Läuten bestimmten das Leben der Menschen in christlich geprägten Regionen der Welt und regelten ebenso ihren Tagesablauf. Dreimal täglich – in manchen Klöstern sogar viermal – kündete eine Glocke den Engel des Herrn, den Angelus zu beten. Besonders beeindruckend und ergreifend wird dieses Procedere im Jahr 1956 veröffentlichten Film „Unsere liebe Frau“ aus Altötting verbal dargestellt. Morgens (früher 6:00 Uhr, heute meist 7:00 Uhr), mittags um 12:00 Uhr, und Abends je nach örtlicher Tradition unterschiedlich zum Sonnenuntergang oder einer festen Betzeit gehandhabt, erklingt eine Glocke solistisch aus dem Glockenstuhl des Kirchturms oder Glockenträgers. Dieses Angelusläuten ist wohl das Bekannteste neben dem Läuten zu Gottesdiensten und Andachten.
Eine weitere Sitte im Umgang mit den Kirchenglocken ist das Einläuten des Sonntags, dem Tag des Herrn am Samstagnachmittag oder -abend vor der ersten Messe. Das Einläuten, im süddeutschen Raum auch als Feierabendläuten bekannt, geht vermutlich auf das erste große Läuten nach den Werktagen zur ersten Vesper vom Sonntag zurück, und spricht, wie schon erwähnt, vom einem großen Sonntagsgeläute. Vielerorts wird hierzu sogar das Plenum geschaltet. Nach der flächendeckenden Einführung von Läutemaschinen in den Kirchtürmen expandierte die Dauer dieses ersten Läutens vor dem Sonntag. Eine sehr spezielle, feierlich anmutende Variante wird hierzu in Form des Reihenläutens vor dem Plenum gepflegt, indem zuerst von der Kleinsten bis zur Größten alle Glocken im Einzelläuten nacheinander vorgestellt werden.
Höhepunkt ist schließlich das Plenum aus allen bereits geläuteten Glocken. Doch gibt bzw. gab es neben dem Samstag auch den Donnerstagabend und Freitag als Tage von alter Läutetradition. Donnerstagabends nach dem Angelus wurde die meist tontiefste Glocke solistisch im Gedenken an die Todesangst Jesu im Garten Getsemani geläutet. Dieses in der Dämmerung als sehr ernst zu vernehmendes Läuten galt im Volksmund umgangssprachlich sehr schnell als das Angstläuten. Am darauf folgenden Tag, dem Freitag erklang im äußersten Falle sage und schreibe sieben Mal ein Geläut von den Kirchtürmen. Neben den drei obligatorischen Angelusgeläuten wurde akustisch an die Leidensgeschichte Jesu Christi am Karfreitag erinnert – jeden Freitag des Jahres, außer am Karfreitag selbst! Übliche Uhrzeiten für das Läuten waren hierbei 9:00 Uhr (Kreuzigung), 11:00 Uhr (Leiden Jesu am Kreuz „Herz Jesu Läuten“), 15:00 Uhr (Kreuzestod) und 16:00 Uhr (Kreuzabnahme).
Mancherorts hielt sich – speziell in Österreich und der Schweiz – das 11:00 Uhr und das 15:00 Uhr Läuten. Neben diesen aufgeführten liturgischen Läutetraditionen der Kirche gab es auch von so manchen Kirchtürmen vor Jahrhunderten ein profanes Läuten, was ich neben dem allseits bekannten Wetter- und Feuerläuten kurz aufführen möchte.
Es ist das so genannte Armeseelen- oder auch Verirrtenläuten. Es wurde täglich mit einer einzelnen Kirchenglocke frühestens eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit praktiziert, und diente den Leuten, die noch nicht innerhalb der sicheren Stadtmauern waren, als akustischer Wegweiser. Nachweislich wird diese uralte Sitte heute noch allabendlich in der historischen Stadt Fribourg in der französischen Schweiz an der gotischen Kathedrale St. Nikolaus hochgehalten. Werden auch wir deutschsprachigen Katholiken wieder hellhöriger auf unsere Kirchenglocken und das, was sie uns mitteilen.