Klaus Kühlwein: Der faustische Pakt

Stellungnahme zu meiner Pius-Forschung. Eine Antwort auf Michael Hesemann.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 14. Februar 2011 um 19:05 Uhr

In letzter Zeit wurden meine Forschungen zu Pius XII. von verschiedener Seite in sehr unsachlicher Weise angegriffen. Zum Teil sind Kommentare in Internetforen mit harschen polemischen Äußerungen vermischt. Ich gehe keiner kritischen Anfrage aus dem Weg, doch sie sollte sachgerecht geführt werden. Vor allem der deutsche Vertreter der Pius-verteidigenden internationalen PAVE THE WAY FOUNDATION und freie Mitarbeiter von Kathnews, Dr. Michael Hesemann, sieht sich bei jeder Gelegenheit gedrängt, meine Forschungsergebnisse in einer ebenso verzerrenden wie historisch ausweichenden Art zu attackieren. Ich beziehe mich hier vor allem auf jene Vorwürfe, die mir im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der SS-Judenrazzia vor den Augen Pius XII. am 16. Oktober 1943 gemacht werden. Das tragische Ereignis dieser Razzia verdichtet den ganzen Streit um das „Schweigen Pius XII.“, und es legt schonungslos die Fehlentscheidung des Schweigens offen.

Im Namen der PAVE THE WAY FOUNDATION wirft mir Herr Hesemann nicht nur Unkenntnis neuerer Quellen vor, sondern auch eine mutwillige Verdrehung und Leugnung anerkannter Tatsachen. Dieser Vorwurf lässt sich im Kern folgendermaßen zusammen fassen: Kühlwein weiß nichts vom Interview des Zeitzeugen Leutnant Nikolaus Kunkel (oder verschweigt peinlich seine Aussage), der genau beschreibe, wie der Stadtkommandant General Stahel aufgrund der Intervention Pius XII. Maßnahmen gegen die Razzia ergriff und von Himmler höchst persönlich einen Abbruch erreichen konnte. Infolgedessen ignoriert Kühlwein die Tatsache des vorzeitigen Stopps der Razzia mit der Verschonung von mindestens 7000 Juden der Stadt und ihre unverzüglichen Rettung durch eine Klosteröffnung Pius XII. Das glückliche Schicksal des Oberrabbiners Zollis durch seine Zuflucht im Vatikan sei dafür ein Beispiel von vielen.

Ich weise scharf die Unterstellung zurück, dass ich neuere Dokumente nicht kennen würde. Mir ist jedes zugängliche Dokument und jede Zeugenaussage rund um die Judenrazzia bekannt. Im Einzelnen will ich auf vier Punkte eingehen:

1. Leutnant Nikolaus Kunkel: Tatsächlich hat die gesamte Aussage Kunkels nichts mit dem Verhalten Pius XII. zu tun. Mir liegt sein Interview im deutschen O-Ton vor. (öffentlich ist nur eine englische und italienische Übersetzung zugänglich). Ich kann in der Aussage Kunkels nichts entdecken, was eine Intervention Pius XII. betrifft. General Stahel hat völlig eigenständig gehandelt. Von einem Telefonat mit Himmler spricht Kunkel nur unbestimmt. Er wisse nichts Näheres darüber.

2. Das Telefonat Stahels und der angebliche Razziastopp: Nach Aussage von Oberst Belitz gegenüber Pater Gumpel erwähnte General Stahel nicht die Gefahr eines päpstlichen Protestes. Vielmehr wies Stahel auf die angespannte Sicherheitslage in Rom hin und auf die Notwendigkeit von Ruhe und Ordnung für eine ungestörte Frontversorgung. Pius XII. spielte in dem Gespräch keine Rolle.

Himmler gab auch keine Order, die Razzia abzubrechen; ich wiederhole: er gab keine Order. Das ist eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. Alle Dokumente und Zeugenaussagen bestätigen das. Die Razzia war gegen 14 Uhr an diesem 16. Okt. regulär beendet. Offensichtlich haben die Pius-Verteidiger in der Foundation hier dringenden Nachholbedarf in der Dokumentensichtung. Was man sagen kann ist, dass Himmler den Stadtkommandanten beruhigte. Nach der gerade stattgefundenen Razzia werde es in Zukunft keine weiteren geben (so die Mitteilung Stahels an Bischof Hudal). Doch das war logisch abzusehen. Nach der Razzia gab es keine Juden mehr, die man per Adresse hätten abholen können. Der kommandierende Razzia-Offizier Dannecker hatte das alte Judenghetto räumen und alle Adressen in Rom abfahren lassen, derer er habhaft geworden war. Ab sofort gab es nur noch Juden auf der Flucht. Jene, die nicht auf der Liste gestanden haben, tauchten aus Angst vor einer Verhaftung in die Illegalität ab.

Übrigens widerlegen allein schon die weiteren Ereignisse in den nächsten Monaten in Rom die Behauptung, dass Himmler aus Furcht vor einer päpstlichen „Reaktion“ die Judenjagd in der Ewigen Stadt hat einstellen lassen. Das Gegenteil war der Fall. Himmler gab ausdrücklich Weisung an die Gestapo, dass die Juden unbedingt alle zu verhaften und zu deportieren seien. So wurden bis zur Befreiung Roms noch einmal rund eintausend Juden durch Straßenkontrollen, Verrat oder unglückliche Zufälle von der römischen Gestapo festgenommen. Das ist eine historische Tatsache.

3. Die Deportation: Papst Pius hatte am Tag der Razzia und in den darauf folgenden zwei Tagen (als die über eintausend Verhafteten unweit vom Vatikan hilflos interniert waren) den Juden seiner Stadt keinen konkreten Beistand und keine Zuflucht gewährt. Am Montag, den 18. Okt. wurden die Juden völlig ungestört aus Rom direkt nach Auschwitz transportiert. Pius XII. ließ das ohne geringsten Widerstand zu.

Dass ein Arbeitslager in Mauthausen auf die Juden wartete, war nie geplant. Der entsprechende Hinweis Ribbentrops in seinem Auftragstelegramm vom 9. Okt. war ein „Fake“.  Der Originaldeportationsbefehl lautete: Liquidation!

Dementsprechend hatte Eichmann den Zug auch nicht „umgeleitet“ – aus Rache wegen der päpstlichen Intervention. Herr Hesemann zitiert dazu als Beweis eine Passage aus der Anklageschrift gegen Eichmann. Nun, in meiner Ausgabe der offiziellen Gerichtsprotokolle des israelischen Justizministeriums gibt es in den insgesamt 15 Anklagepunkten diese Passage nicht. Tatsächlich ist sie nur eine Bemerkung in der langen Eröffnungsrede des Generalstaatsanwaltes, die juristisch „keine Anklage“ ist. Während der Hauptverhandlung wurde die Andeutung nie näher verfolgt, geschweige denn bewiesen. Es ist unwissenschaftlich und unlauter eine Behauptung falsch zu deklarieren, ihr regelwidrig Beweischarakter zu verleihen und diesen „Beweis“ dann einem Kontrahenten um die Ohren zu hauen. Das ist ein noch schwaches Beispiel von vielen, wie immer wieder „argumentiert“ wird.

Eichmann erfuhr erst eine geschlagene Woche nach der Razzia von dem so genannten Hudalbrief, in dem von einem möglichen Protest des Papstes gesprochen wird. Er leitete das Hinweisschreiben über den Hudalbrief ohne Konsequenz weiter an seinen Vorgesetzten Müller.

Im Herbst 1943 hatte Papst Pius bereits umfassende Kenntnis über einen sich ungebremst austobenden Völkermord am europäischen Judentum in Polen und hinter der Ostfront. Er war über die Deportationspraxis aus allen Teilen des besetzten Europas gut informiert und wusste, dass dies allesamt Fahrten in die Vernichtung waren. Für die römischen Juden bedeutete das nichts anderes. Das war Pius klar.

4. Die in Klöstern etc. Zuflucht findenden Juden: Ich bestreite nicht, dass Rabbi Zolli Pius XII. sehr dankbar sein durfte und dankbar war – wie beispielhaft für viele andere. Dieser vielfältige Dank ist eine schöne Sache. Doch das hat wieder nichts mit dem Verhalten von Pius bei der Razzia zu tun. Rabbi Zolli war am 16. Oktober schon seit Wochen im Untergrund. Er wurde nicht von Pius gerettet, sondern er hatte sich in weiser Voraussicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Erst später profitierte er und die vielen anderen Schutz suchenden Juden von der Weisung eines geläuterten Pius XII. Endlich stellte sich dieser mutig vor die Juden seiner Stadt. Darauf bezieht sich der gerechtfertigte Dank der Juden. Es war der Dank an den Apostel Roms, dem die Katastrophe der Razzia in seiner Bischofsstadt zum Damaskuserlebnis geworden war.

Ich unterstelle Pius XII. keine unlauteren Motive bei seinem tragischen Versagen während der Judenrazzia in Rom. Er hatte so gehandelt wie in den Kriegsjahren zuvor. Er wollte Berlin diplomatisch nicht herausfordern und auf keinen Fall einen offenen Konflikt riskieren. Seine Regel lautete: Schweigen, um Schlimmeres zu verhüten. Diese Maxime wird von der Pius-Verteidigung gern anerkannt. Jedoch bedeutete die Maxime nichts anderes als ein faustischer Pakt, den Papst Pius mit Hitler geschlossen hat.

In der internationalen Politik sind faustische Pakte übliche, „unheilige“ Mittel zum Zweck. Wie ethisch problematisch sie sind, zeigt der aktuelle Flächenbrand in arabischen Ländern. Die politische Schonung, ja Hofierung von Potentaten und Diktatoren um eines „höheren“ Vorteils willen, ist nichts weniger als ein Verrat am gequälten Volk. Papst Pius hatte Hitler zwar nicht hofiert, jedoch sehr geschont – um vermeintlich Schlimmeres abwenden zu können. Vermeintlich!

Zugute halten muss man Pius, dass er den faustischen Pakt nicht aus Überzeugung schloss, sondern notgedrungen. Viele Quellen zeigen, wie unsicher Pius XII. war bei seiner Suche nach dem richtigen Kurs gegenüber der mörderischen Macht Berlins. Diese Unsicherheit war ständig begleitet von der Angst, eine Fehlentscheidung zu treffen mit für ihn unkalkulierbaren Folgen. Wohin das letztlich führte, habe ich beispielhaft an der Judenrazzia in Rom analysiert. Pius XII. hatte in den drei Tagen der Finsternis in Rom kein Konzept, Hitler und seinen Schergen Paroli zu bieten. Der faustische Pakt lähmte ihn. Seine Hoffnung über sanfte Diplomatie hinter den Kulissen etwas erreichen zu können, war von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Die reibungslos abgelaufene Verhaftung, Deportation und Ermordung von über tausend Juden der Ewigen Stadt vor den Augen des hilflos und schwach agierenden Pius XII. war ein ethischer Supergau für das Papsttum.

Fünfzig Jahre nach dem Tod Pius XII. ist es an der Zeit zu einer neuen Einschätzung seines Verhaltens zu kommen. Die erste große Kritikwelle, die Rolf Hochhuth ausgelöst hat, muss konstruktiv überwunden werden. Die Quellen der Archive des geöffneten päpstlichen Geheimarchivs 2003 und 2007 sowie die verbesserte historische und kirchenhistorische Aufarbeitung der NS-Zeit fordern eine „menschlich-realistische“ Beurteilung Pius XII. Dafür plädiere ich. Im Gegensatz dazu spottet das naiv bejubelte Verehrungsfeuerwerk, das in den letzten Jahren mit wachsender Intensität abgebrannt wird, jeder seriösen Historik.

Leider schlägt der aufwändig gedrehte Film-Zweiteiler „Pius XII“ (Sotto il cielo di Roma) in dieselbe Kerbe. Die Rolle von Papst Pius ist massiv verzerrt. Erfreulicherweise wird im neuen Film „Gottes mächtige Dienerin“ das Verhalten Pius XII. während der Razzia realitätsgerechter dargestellt (Ausstrahlung des Zweiteilers ARD / Ostern).

Meine Kritik an Papst Pius XII. fällt mir nicht leicht. Ich bin römisch-katholischer Theologe und Pius XII. war auch „mein“ Papst. Die Wahrheit seines Versagens bei der Judenrazzia in seiner Bischofsstadt und sein faustischer Pakt mit Hitler schmerzen mich ungemein. Doch eines tröstet und stimmt mich versöhnlich: Pius XII. hat eine Woche nach dem Desaster in einem Damaskuserlebnis ganz neu auf seinen Herrn gehört. Vielleicht rührten ihn die Worte des Weltenrichters an (Mt 25,45): »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.« Nicht getan!

Pius kehrte um und stellte sich fortan vor die Geringsten seiner Brüder. Er gab ihnen Schutz und Zuflucht in allen kirchlichen Häusern.

Anmerkung der Redaktion: Am 25. Januar 2011 veröffentliche unser freier Mitarbeiter Michael Hesemann den Artikel „Perfide Propaganda“ auf Kathnews. Darin ging Hesemann, der ein exzellenter Kenner des Lebens und Wirkens Pius‘ XII. ist, auf die Vorwürfe ein, die von mancher Seite gegen Papst Pius XII. erhoben werden. Dabei bezog sich Hesemann auch auf das Pius-Buch des katholischen Theologen Klaus Kühlwein, das nach Auffassung von Hesemann „schon bei Erscheinen heillos überholt war und der seitdem konsequent die Resultate der jüngeren Pius-Forschung ignoriert“. Der vorliegende Text ist die Antwort des Theologen Klaus Kühlwein auf den Artikel Michael Hesemanns.

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