„Jetzt brauche ich ein Radio“
Moskau (kathnews/KiN). Die Bilder gingen um die Welt: Panzer rollen in die Moskauer Innenstadt und postieren sich auch vor dem Parlamentsgebäude der Russischen Sowjetrepublik. Die Nachrichtenagentur TASS meldet, dass der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, wegen Krankheit von seinem Amt entbunden sei. In Wirklichkeit ist er in seiner Datscha auf der Halbinsel Krim gefangen gehalten worden. Den Kommunisten war der offene und pro-westliche Kurs Gorbatschows ein Dorn im Auge. Ein selbsternanntes Notstandskomitee hat deshalb einen Putschversuch unternommen und den Ausnahmezustand verhängt. Es ist Montag, der 19. August 1991, der Tag des Putsches gegen Michail Gorbatschow. Für ihn war es der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere, für einen anderen begann sie: Boris Jelzin. Schon bald wurde er zum Sprecher und Führer des Widerstandes gegen die kommunistischen Putschisten, denn der Wunsch nach Reformen und Demokratie war in der Bevölkerung sehr stark – entgegen den Erwartungen der westlichen Welt und der Armee in Moskau. Der Einfluss Jelzins, damals Präsident der Russischen Sowjetrepublik, wuch stetig.
Ein Radio wird entdeckt
In Erinnerung geblieben ist die Szene, als Jelzin vor dem Parlamentsgebäude auf einen Panzer kletterte und von dort aus ohne Mikrofon zu den Menschen sprach. Nach dieser Rede ging er in das Parlament zurĂĽck und sagte zu den Abgeordneten: „Jetzt brauche ich ein Radio.“ Er wollte so viele Menschen wie möglich erreichen; es musste also schnell ein „Sprachrohr“ fĂĽr die demokratische Bewegung her. Doch die Medien waren in der Hand der Putschisten, die die Falschmeldung von Gorbatschows Krankheit weiterhin verbreiteten. In diesem historisch entscheidenden Augenblick verhalfen Weitblick und Wagemut des „Speckpaters“ und GrĂĽnders von „Kirche in Not“, Pater Werenfried van Straaten, den Gegnern der Putschisten zu einem entscheidenden Vorteil. Zu aller Erstaunen gab der russische Abgeordnete Viktor Aksiutsjik bekannt, dass er die Ausstattung fĂĽr ein Radio besitze. Seit einiger Zeit gab es nämlich Pläne, mit Hilfe des weltweiten katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ eine gemeinsame Rundfunkstation der katholischen und orthodoxen Kirche in der Sowjetunion zu grĂĽnden. Aksiutsjik gehörte dem Vorstand des Senders Radio Blagovest, zu deutsch „Frohbotschaft“, an. Er sendete von Monte Carlo aus auf Russisch und konnte in der Sowjetunion empfangen werden. Die Russisch-orthodoxe Kirche wollte mit Hilfe einer niederländischen Stiftung und „Kirche in Not“ eine lokale Radiostation in Moskau grĂĽnden. Aber das Kommunikationsministerium hatte die Lizenz dafĂĽr verweigert.
Doch die Ausstattung fĂĽr den Radiosender befand sich im August 1991 schon längst in Moskau und wurde in einer Lagerhalle aufbewahrt. Ăśber längere Zeit hatte „Kirche in Not“ das erforderliche technische Gerät in Einzelteilen mit dem Schiff nach Sankt Petersburg und von dort aus nach Moskau geschmuggelt. Hier wurden die Teile wieder zu einem sendefähigen Apparat zusammengesetzt. Die Anlage stand einsatzbereit in Moskau und musste nur noch aus der Lagerhalle geholt werden.
Unter Salat und Tomaten
Ein Lastwagen der Kantine des Parlaments wurde in die Halle geschickt und der Sender dort aufgeladen. Damit die Putschisten die Radiotechnik nicht entdecken konnten, wurde sie unter Salat, Tomaten und anderen Lebensmitteln versteckt. Nach der RĂĽckkehr des Kuriers installierten Ingenieure den Sender im Parlamentsgebäude, die Luftwaffe stellte eine Antenne zur VerfĂĽgung. Schon wenig später konnte Boris Jelzin die Moskauer Bevölkerung um Hilfe rufen. Der spätere Präsident bedankte sich, indem er schon im September 1991 die Sendeerlaubnis fĂĽr den Rundfunk erteilte. Er durfte von sechs Uhr morgens bis Mitternacht senden. Dank Pater Werenfried hatte Boris Jelzin ein „Sprachrohr“, um die Bevölkerung zum Widerstand gegen die kommunistischen Putschisten aufzurufen. Sein Hilferuf an die Moskowiter wurde erhört: Tausende versammelten sich friedlich auf Moskaus StraĂźen. Selbst einige Armee-Einheiten liefen später zu Jelzin ĂĽber. Am Abend des 21. August war der Putsch vorbei.
Auch wenn heute kaum noch ĂĽber diese kritischen Tage in Moskau gesprochen wird, waren die Folgen dieses Putsches weitreichend: Boris Jelzins Haltung während des Putsches stärkte seine Position gegenĂĽber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Bereits wenige Tage nach dem Putsch trat dieser als Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zurĂĽck. Am 8. Dezember beschlossen die Präsidenten der Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und WeiĂźrussland die GrĂĽndung der GUS, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Ihr schlossen sich acht weitere ehemalige Sowjetrepubliken an. Am 25. Dezember dankte Gorbatschow endgĂĽltig als Präsident der Sowjetunion ab; Jelzin wurde sein Nachfolger. Zum Jahreswechsel zerbrach die Sowjetunion endgĂĽltig. Wie wichtig das religiöse Programm des Senders Radio Blagovest nach wie vor ist, bezeugen Tausende Briefe, die „Kirche in Not“ erreicht haben und immer noch erreichen.