„In Anbetracht dessen, mein Herr, was willst du uns sagen?“
Vor fast genau einem Jahr – am 12. Januar 2010 – wurde der Inselstaat Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert. Mit diesem Beben kam unsägliches Leid über die Bevölkerung dieses Landes, das zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt gezählt wird. Die unerträglichen Bilder der vielen Leichenberge in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince und die Berichte über die unzähligen Menschen, die zu Witwen, Waisen oder Krüppeln wurden, kommen uns auf einmal wieder in den Sinn, sobald wir an diese Katastrophe erinnert werden. Längst aber ist das Interesse der Medien an diesem vom Schicksal schwer gebeutelten Land und seinen Bewohnern größtenteils erloschen – und so werden wir nur noch selten daran erinnert.
Anders ergeht es da einer kleinen Gruppe von Frauen, die sich bereits 15 Jahre vor der schweren Naturkatastrophe 2010 in Port-au-Prince zusammenfand, um sich dort der Evangelisierung der Armen und der Ausgestoßenen zu widmen. Die Rede ist von der Gemeinschaft der Kleinen Schwestern vom Evangelium, die am 01.12.1963 von Rene Voillaume gegründet wurde und seitdem – in kleinen Gruppen über die ganze Welt verteilt – die Lebens- und Arbeitsbedingungen mit den an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen teilt, nach dem Beispiel von Jesus von Nazareth, der als einfacher Zimmermannsohn unter den Menschen seiner Zeit lebte.
Anfangs waren die Leute zwar erstaunt und verwundert über die sehr einfache Lebensweise der Ordensschwestern, doch es gelang den Schwestern schnell, mit der überwiegend jungen Bevölkerung Haitis in Kontakt zu kommen. Die Frauen konnten anfangs nur erahnen, was das Leben eines Großteils dieser Menschen ausmachte. Besonders Arbeitslosigkeit, chronische Unterernährung, Analphabetismus und Aids waren soziale Brennpunkte, ebenso wie die Situation vieler Kinder und Jugendlichen, die auf der Strasse aufwuchsen und dort leben mussten. Erfreulicherweise konnten die Schwestern im Laufe der Jahre um die Fraternität eine katholische Gemeinde sammeln, die den jungen Menschen einen Ort der Begegnung und des gemeinsamen Lebens bot. So trugen die Schwestern dazu bei, den Glauben der jungen Menschen in deren Leben zu verwurzeln.
Die Schwestern erlebten auch das schwere Erdbeben mit, das Haiti vor 12 Monaten erschütterte. Wie durch ein Wunder überlebten sie alle. Die Kirche des Landes wurde allerdings stark in Mitleidenschaft gezogen – der Erzbischof und über 100 Priester, Ordensleute und Geistliche verloren ihr Leben. In den ersten Tagen nach dem Beben versuchten die Schwestern, in dem heillosen Durcheinander ihren Nachbarn, Bekannten und den Menschen aus ihrem Viertel beizustehen und mit ihnen einen Weg in die Zukunft zu finden. Sie bemühten sich, an Hilfsgüter zu kommen, sie kümmerten sich um die Kranken, Obdachlosen und die vielen alleine herum irrenden Kinder, sie berichteten der Welt über die vollkommen chaotischen Zustände auf den Straßen von Port-au-Prince und die große Verzweiflung der Überlebenden, die immer und immer wieder die Frage nach Gott stellten und sich von ihm verlassen fühlten angesichts des Bösen um sie herum.
Auch in den letzten Monaten hat sich das Leid der Haitianer nicht wesentlich gebessert. Zwar scheint das Chaos mittlerweile geordnet, aber es leben immer noch mehr als eine Million Menschen in der Hauptstadt in prekären Zeltstädten inmitten von Müll und Abwässern. Es gibt nach wie vor große Koordinationsprobleme in Bezug auf die internationale Hilfe, denn nationale Strukturen und Non-Profit-Organisationen stehen oft in Konkurrenz zueinander. Millionen Euro, die als Hilfsgelder gedacht waren, sollen auf die Konten korrupter Politiker gewandert sein. Lebensnotwendige Güter werden auf dem Schwarzmarkt zu völlig überhöhten Preisen angeboten. Vergangene Woche hat Amnesty International zudem auf die zunehmende sexuelle Gewalt gegenüber Frauen in Haiti aufmerksam gemacht. Schon allein in den ersten Tagen nach dem Beben wurden 250 Vergewaltigungen angezeigt, inzwischen ist sogar von Massenvergewaltigungen die Rede. Kinder, die ihre Eltern und Familien verloren haben, müssen sich gezwungenermaßen prostituieren, um überhaupt überleben zu können. Seit die Cholera ausgebrochen ist, greifen in den ländlichen Gegenden des Landes Hexenjagden um sich. Mit Macheten bewaffnete Gruppen töten Frauen, da sie glauben, diese würden mit Hilfe schwarzer Magie die Haitianer mit der Cholera-Krankheit infizieren. Der Wiederaufbau stockt, da erst neue antisismische Gesetze für erdbebensichere, öffentliche Bauten verabschiedet werden müssen. So viele Grundbedürfnisse sind nach wie vor nicht gestillt, und jeder neue Tag ist ein weiterer Kampf ums Überleben und den Erhalt der Menschenwürde. In dieser von so viel Ungerechtigkeit und Frustration geprägten Situation ist anscheinend jegliches Interesse der haitianischen Bevölkerung am Gemeinwohl verkümmert.
Was bleibt, ist die Frage nach Gott. Auch Bruder Francklin, der Gründer einer haitianischen Gemeinschaft in der Spiritualität Charles de Foucaulds, die viel mit den Kleinen Schwestern vom Evangelium zusammenarbeitet, stellte in einem sehr persönlichen Zeugnis die Frage: „In Anbetracht dessen, mein Herr, was willst du uns sagen?“ Diese Frage ist nicht neu – seit es Leid gibt, fragen die Menschen nach dem Gott, der so etwas zulassen kann. Ebenso gibt es eine Fülle von menschlichen Antwortversuchen: „Der Mensch erzeugt das Unheil selbst“; „Gott straft den Menschen für etwas“; „Nur durch erlittenes Leid kann der Mensch wachsen und reifen“.
Eines müssen wir uns hierbei immer wieder verdeutlichen: Wir dürfen zweifeln, und wir dürfen Gott nach dem „Warum“ und dem „Wozu“ fragen, doch wir können diese Frage letztendlich nicht selbst beantworten, ebenso wie wir einsehen müssen, das es uns nicht zusteht, über Gott zu urteilen und zu richten. Zum einen ist ein Großteil des Übels der Welt tatsächlich vom Menschen selbst verursacht. Kriege, Bau und Einsatz von Chemie- und Atombomben, Folter, Unterdrückung und Hunger in einer übersatten Welt sind da nur einige wenige Beispiele, und die Liste ließe sich beliebig fortführen. Aus dieser Verantwortung kann der Mensch sich auch durch die Schuldzuweisung an Gott nicht stehlen. Zum anderen gibt es jene unvermeidbaren Leiden, die zu den Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens gehören, denn wir sind von Gott gewollt als zeitliche und sterbliche Wesen erschaffen worden. „Wir leben in einer Welt, in der Erlösung nicht vorweg genommen werden kann“, sagte der Religionshistoriker Gershom Scholem zu dieser Thematik, und – rational betrachtet – müssen wir zugeben, dass wir auf Erden tatsächlich keinen Anspruch auf die Erfüllung unserer Wünsche durch Gott haben, und ihn somit auch nicht für unser Leid verantwortlich machen können.
Leid ist also eine unumgängliche Grunderfahrung menschlichen Lebens. Manchmal allerdings ist das Leid in einem derartigen Übermaß vorhanden, das absolut kein Sinn mehr darin gefunden werden kann. Um dann nicht endgültig am Leid zu scheitern und an der Sinnlosigkeit zugrunde zu gehen, können wir uns in solchen Zeiten nur noch tragen lassen von der einer großen Hoffnung, der Osterhoffnung, die besagt: „Die Gerechtigkeit wird das letzte Wort zurückbekommen, nicht das Unrecht. Die Freiheit wird das letzte Wort erhalten, nicht die Knechtschaft. Die Liebe wird das letzte Wort behalten, nicht der Tod“ (aus „Warum gibt es Leid? Die große Frage an Gott“ von Johannes B. Brantschen). Und diese Hoffnung kann uns den Mut und die Ausdauer geben, trotz aller Not, allen Unglücks und allen Leidens das hier und heute Notwendige zu tun.