Die versunkene Kathedrale. Den christlichen Glauben neu entdecken

Eine Buchbesprechung von Clemens Victor Oldendorf.
Erstellt von Clemens Victor Oldendorf am 27. Januar 2015 um 20:19 Uhr
Bildquelle: Media Maria

Womöglich vor mehr als zwanzig Jahren schon prägte der mittlerweile von Benedikt XVI. zum Apostolischen Protonotar erhobene Mainzer Kirchenrechtsprofessor Georg May mit Blick auf die Beichte das Wort vom „vergessenen“ oder „verlorenen“ Sakrament. Solcher Verlust war und ist kennzeichnend für die Jahrzehnte seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und beschränkt sich nicht auf das Bußsakrament, dessen Verschwinden und Vergessen eher Segment und Symptom ist für einen oft unmerklichen Verlust des Katholischen im Ganzen. Statt dies einzugestehen, wurde und wird seither, entgegen offenkundiger Statistik, oftmals noch von einem Aufbruch, von Neuentdeckung des Glaubens gesprochen, der dem Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verdanken sei.

Gewisse Skepsis

Wegen des Untertitels: „Den christlichen Glauben neu entdecken“, den der Trierer Diözesanpriester und Münchner Pastoraltheologe Andreas Wollbold seinem Buch „Die versunkene Kathedrale“ gegeben hat, begann ich mit einiger Skepsis die Lektüre dieses Werkes, denn er erinnert mich unangenehm an die illusionierende Aufbruchterminologie, mit der die Ordinariatsgrößen landauf, landab den Niedergang verwalten, bis der Letzte das Licht ausknipst.

Als es 2013 im Illertissener Verlag Maria Media erschien, war Gerhard Ludwig Müller zwar schon Präfekt der Glaubenskongregation, hatte aber noch nicht den Purpur der Kardinäle empfangen. Trotzdem war das Vorwort, das der Erzbischof beisteuerte, eine offiziöse Leseempfehlung. Den Einstieg machte Müller mit einem Bildwort Benedikts XVI. aus der Eröffnungspredigt zum Jahr des Glaubens anlässlich des 50. Jahrestages des Beginns des Zweiten Vatikanischen Konzils. Darin verglich er die Situation seit dem Konzil mit einer Wüste (vgl. S. 9). Ein, obwohl der Sache nach bedauerlich, erfrischend klarer Realitätssinn, eben ganz anders als der blinde Erneuerungstaumel angeblicher Früchte und Aufbrüche infolge des Konzils. Eine Klarsicht Ratzingers, in der der 50. Jahrestag der Konzilseröffnung mehr als eine Gedächtnisstunde, denn als ein freudiges Jubiläum in die Bilanz der Kirche heute eintrat. Es ist bemerkenswert, dass der Präfekt der Glaubenskongregation diese Sichtweise in seinem Vorwort übernimmt, und dieses ist insgesamt als überaus positiv zu würdigen. Müller fragt treffend: „Das christliche Leben ist auch Glaubenspraxis: Gebet, Moral und sakramentales Leben. Ob nicht ein Teil der Verwüstung, von der Papst Benedikt spricht, daraus resultiert, dass die Glaubenspraxis als unwichtig abgetan wurde?“ (S. 11)

Versunkene Kathedrale

Nicht dem Wüstenbild Ratzingers schließt Wollbold sich an, sondern greift eine alte, bretonische Volkserzählung auf, die zuvor schon Claude Debussy musikalisch vertont hat. Wollbold dazu: „Von einer (…) Kathedrale, dem Dom der Stadt Ys in der Bretagne, erzählt nun aber eine Legende, sie sei eines Tages vom Meer verschlungen worden. Da kann man sich die Frage stellen: „Hat nicht das gleiche Schicksal die Kathedrale des Glaubens ereilt? In der Tat, bei vielen Christen ist der Glaube wie vom Erdboden verschluckt. Am Anfang haben sie vielleicht noch etwas vermisst. Doch das gibt sich mit der Zeit, denn auch bei religiösen Ãœberzeugungen gilt: aus den Augen, aus dem Sinn.“ (S. 13) Wollbold ist aber nicht schwarzmalerisch, denn das Bild der versunkenen Kathedrale hat er deshalb übernommen, weil die Legende nicht im Versinken, sondern im intakten Wiederauftauchen der Bischofskirche von Ys kulminiert: „In der Bretagne erzählt man weiter: Eines Tages steigt die Kathedrale wieder vom Meeresgrund empor. Wie durch ein Wunder ist sie dabei nicht durch Schlamm, Tang, Algen und Muscheln entstellt, sondern sie ist schön wie am Tag ihrer Weihe. Geläut, Gebet und Gesang klingen auf, und das Haus Gottes erstrahlt in unvergleichlichem Glanz.“ (S. 14)

Aus Predigt und Katechese erwachsen

Wollbolds Buch ist, wie er selbst in der Einleitung darlegt, aus seiner Verkündigung in Predigt und Katechese hervorgegangen (vgl. S. 18), und bei der Lektüre fällt die glückliche Verbindung von inhaltlichem Anspruch, auf den ein Theologieprofessor nicht verzichten darf, mit der flüssigen und gutverständlichen Vermittlung auf, aus der die priesterliche Erfahrung eines gewissenhaften Seelsorgers spricht. Beides paart sich immer wieder mit erfrischendem Humor, der gleichsam beides verbindet: „’Man muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen‘, so sagt man vielleicht in guter Absicht. Aber, wenn sie im Regen stehen, holt man sie doch zuerst einmal ins Trockene.“ (S. 15)

Mit der Architektur des Glaubens der Kirche wieder vertraut werden

Andreas Wollbold geht in verschiedenen Schritten vor, die gleichsam zuerst den Bauplan von Glaube und Kirche zeichnen, um sie auf Grundlage dieses Bauplans wiedererstehen zu lassen. Dabei geht es nicht um Neuaufbau aus alten Versatzstücken, nicht um eklektizistische Neugestaltung aus alten Bauelementen, die kreativ mit neuen verbunden werden oder in diesen überhaupt deplatziert und fremd wirken. Somit erst recht museal wirken würden wie unverstanden fremde Altertümer in futuristisch kalten Ausstellungsräumen, die vor allem die eigene Sterilität ausstrahlen. Nein, Wollbold hat die bretonische Legende wirklich bedacht und konsequent übernommen. Auch dort ersteht die alte Kathedrale, die die Fluten verschlangen, unversehrt und frisch und taucht in ihrem altehrwürdigen Glanz, unverwüstlich jugendlich, wieder auf. Nicht eine neue Kathedrale erhebt sich mit dem Wiederauftauchen, und auch wird nicht mit dem Bau eines neuen Domes, dem einstweiligen Verlust des alten ungeduldig vorgegriffen. Das apokalyptische Nichtwissen von Tag und Stunde wird zum Hoffnungsschimmer, demgegenüber man bereit und erwartungsvoll sein darf und geduldig sein muss.

Glaube und Vernunft

Ein erster Teil macht in drei Stufen Grundlagen des Glaubens bewusst, die nicht ohne Frage und Anspruch der Wahrheit gedacht werden können und ohne die deshalb der Glaubensakt und Glaubensvollzug selbst nicht möglich sind. Die natürliche Gotteserkenntnis ist dabei grundlegend, und doch ist glauben selbst nicht ein bloßes Meinen, auch nicht einfach die vielleicht intensivste Überzeugung oder subjektiv deutlichste Einsicht eines Menschen oder einer Gruppe, und ist es deswegen fraglich, ob es überhaupt möglich ist, den Glauben der Kirche und die Kirche als Glaubensgemeinschaft mit den sogenannten Religionen der Welt in eine Reihe zu stellen. Das zutreffende Wahrheitskriterium des Christentums ist genaugenommen nicht so sehr sein Unterscheidungsmerkmal zu den anderen Religionen, sondern vielmehr das formale Spezifikum seiner inhaltlichen Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit.

So betrachtet, stehen letztlich nicht viele falsche Religionen der wahren Religion gegenüber, sondern ist es eigentlich falsch, die eine Religion, die notwendigerweise mit dem Anspruch der Wahrheit und seiner Einlösung verbunden sein muss, mit den vielfältigen, menschlichen Äußerungen eines religiösen, oder noch richtiger, transzendenten Bedürfnisses zu einem Plural der Religionen zusammenzufassen, den es strenggenommen nicht gibt. Weicht man diesem Fehler aus, bestreitet man nicht das Bestehen von menschlichen Suchbewegungen, die insofern religiös sind, als ihr Ziel die eine Religion ist und akzeptiert grundsätzlich den Wert dieser Suchbewegungen, die wenigstens implizit auf das Ziel der Religion ausgerichtet sind (oder sein müssen), in der Wahrheitsanspruch und Einlösung dieses Anspruchs verbunden sind, um das Ziel ihrer Suche erreichen zu können, beziehungsweise, wenn sie es erfolgreich erreichen sollen (vgl. S. 19-50). Doch damit erreicht man zunächst nur eine natürliche Religion. Christlicher, katholischer Glaube jedoch ist Offenbarungsglaube.

Glaube und Offenbarung

Glaube ist Antwort auf einen Anruf in der Offenbarung, die mit dem Tode des letzten Apostels vollendet, aber in der Tradition und in der Heiligen Schrift bleibend in der Kirche präsent ist und so durch die Kirche der Welt vor Augen steht. Dieser Antwortcharakter des Glaubens bezeugt, dass die Glaubensinhalte nicht nur auf jene „Daten“ beschränkt sind, die sich natürlicher Gotteserkenntnis verdanken und die das Vatikanische Konzil von 1869/70 dogmatisch so sehr verteidigt hat. Zum katholischen Glauben gehören wesentlich auch Inhalte hinzu, die von Gott – auf der Grundlage der natürlichen Gotteserkenntnis – dem Menschen zu seinem Heil mitgeteilt werden, nicht jedoch auf dem Wege natürlicher Gotteserkenntnis, sondern durch Selbstmitteilung Gottes, die wir die Offenbarung Gottes nennen. In Jesus Christus als dem autoritativen Zeugen Gottes in der Welt, der gottmenschliches Selbstzeugnis gibt, hat diese Offenbarung ihren heilsgeschichtlichen Gipfelpunkt erreicht. Wollbold entwickelt diese Zusammenhänge anschaulich, umfassend und katechetisch in biblischer Fundierung (vgl. S. 50-77).

Bekenntnis zum Glauben der Kirche

Christlicher Glaube ist katholischer Glaube und als solcher kirchlicher Glaube. Er ist dem Einzelnen gar nicht möglich, nicht zuletzt aufgrund seiner vorher vorgestellten Offenbarungskomponente. Er ist folglich nicht Privatsache und nicht Sache des Einzelnen in Unmittelbarkeit zu einer diffusen Gottesvorstellung oder überhaupt unpersönlich wie in fernöstlichen Weltanschauungen, wie etwa dem Buddhismus – schon gar nicht in seiner esoterisch westlich popularisierten Gestalt. Ausdruck dieser Bindung an die Kirche findet der Glaube in den Glaubensbekenntnissen der Kirche. Und so wählt Wollbold anschließend die Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, das wir auch als Rosenkranzcredo beten, als Leitfaden der weiteren Darstellung (vgl. S. 78-239), was den weitaus größten Teil des Buches einnimmt und sich nicht mit knappen Kommentierungen begnügt, sondern immer wieder Anknüpfungspunkte an die Glaubenspraxis der Kirche sucht und weiterführende Exkurse etwa zum Rosenkranz, zur Verehrung der Engel oder zur Rolle der Kirche einflicht, um unsystematisch drei Beispiele herauszugreifen.

Es ist im Rahmen einer Buchbesprechung nicht angebracht, hier den Durchgang durch das Apostolicum detailliert nachzuzeichnen, doch eine Bemerkung möchte ich machen. Sie betrifft den Glauben der Kirche an die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens. Diese erschöpft sich freilich nicht in einer biologischen Konstitution der Physis der Gottesmutter, Wollbold macht aber unmissverständlich deutlich, dass eine Spiritualisierung, die die körperliche Unversehrtheit der Jungfräulichkeit Mariens ausblendet, mit dem Glauben der Kirche unvereinbar ist (vgl. S. 140-144). Nachdem der nunmehrige Kardinal Müller das Buch mit einem Vorwort bedacht hat, kann man dieses in einem weiteren Sinne als eine Distanzierung des Präfekten der Glaubenskongregation von früheren, ungenügenden Aussagen zum Thema verstehen und anerkennen, für die seine Katholische Dogmatik (vgl. dort S. 498) zu Recht kritisiert worden ist, die zuerst unter seinem Namen und in seiner Verantwortung erschienen ist, als er Ordinarius für Dogmatik in München war und weiterhin erscheint, ohne bisher unter anderem im betreffenden Passus verbessert worden zu sein.

Vaterunser – Muster und Schule des Gebets

Wie zuvor anhand des Glaubensbekenntnisses folgt Andreas Wollbold abschließend, wenn auch knapper, dem Aufbau und der Struktur des Vaterunsers, um die Grundstruktur christlichen Betens zu vermitteln (vgl. S. 241-279). Der Englische Gruß und der Rosenkranz folgen. Der Sinn des Bittgebets wird erschlossen, der Rosenkranz vorgestellt (als Verknüpfung wichtiger Grundgebete), zur Einübung der Gewissenserforschung hingeführt. Mit diesem Teil des Buches wird also der Brückenschlag zu einem mittlerweile auch erschienen zweiten Band vollzogen, der den Titel: Licht für meine Pfade – Das christliche Leben neu wagen, trägt. Das Gebet ist der Atem des christlichen Lebens, in den sieben Vaterunserbitten fügen wir uns in den Atemrhythmus des Glaubens ein.

Band II folgt im Aufbau den Zehn Geboten Gottes, die der verdiente Tiroler Franziskaner P. Fridolin Außersdorfer (1909-2006) treffend den „Schatz vom Berge Sinai“ genannt hat. Diese Zehn Gebote sind die Handlungsvorgaben christlichen Lebens, dieses aber nicht Aktionismus und einfach moralische Leistung. Deswegen umfasst „Licht für meine Pfade“ in einem zweiten Teil die Sieben Sakramente und zeigt so auf, dass christliches Leben nicht aus eigener Kraft geführt werden kann, sondern aus dem sakramentalen Heilshandeln Gottes an den Getauften genährt wird, welches dieser durch die Kirche in den Seelen vollbringen will und das sie mit Glaubenskraft erfüllt, ein Gedanke, den Wollbold in einem Schlusskapitel von Band I schön zum Ausdruck bringt (vgl. S. 281-285). Auch dies eine klare Empfehlung, sich Band II nicht entgehen zu lassen.

Wollbold, A.
Die versunkene Kathedrale. Den Christlichen Glauben neu entdecken
(Media Maria) Illertissen 2013
gebunden, 285 Seiten
ISBN 978-3-9815698-5-8
Preis: EUR 19,95

Foto: Die versunkene Kathedrale – Bildquelle: Media Maria

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung