Die Lehrautorität des Zweiten Vatikanischen Konzils

Vaticanum II: Ausdruck des höchsten authentischen Lehramtes.
Erstellt von Gero P. Weishaupt am 12. Dezember 2012 um 17:56 Uhr

Das Zweite Vatikanische Konzil hat zwar kein Dogma definiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass es als ‚fehlbar‘ betrachtet werden kann. Das Konzil hat keine vorläufige Lehre oder Meinungen weitergeben. Die nachkonziliare Krise hat u.a. ihre Ursachen in einer verkehrten Interpretation der Konzilstexte und einer damit verbundenen verkehrten Umsetzung des Konzils. Verantwortlich ist eine Hermeneutik der Diskontinuität bzw. des Bruches, der sich auf einen sogenannten „Geist“ des Konzils beruft. Die korrekte Auslegung der Konzilsdokumente hat jedoch im Anschluss an Papst Benedikt XVI. nicht in einer „Hermeneutik der Diskontinuität zur Ãœberlieferung“ zu erfolgen, sondern in der „Hermeneutik der Reform, der Erneuerung in der Kontinuität“. Sie ist der Schlüssel für die Behebung der nachkonziliaren Kirchenkrise.

Lehramt als einziger authentischer Ausleger der Konzilstexte

Dabei ist das Lehramt der authentische Ausleger der Glaubenslehre und der Konzilstexte, nicht der einzelne Bischof oder Theologe. So sind die kirchenamtlichen Dokumente, die nach dem Konzil veröffentlicht worden sind, wie etwa der Codex Iuris Canonici von 1983 (das kirchliche Gesetzbuch), der Katechismus der Katholischen Kirche, die Erklärung Dominus Iesus der Glaubenskongregation, das Postsynodale Schreiben Christifideles Laici und viele andere lehramtliche Dokumente, die nach dem Konzil geschrieben worden sind, authentische, offizielle und damit bindende Interpretationen des Zweiten Vatikanischen Konzils durch das oberste authentische Lehramt der Katholischen Kirche. Im Hinblick auf die authentische Interpretation könnte der Papst einen Päpstlichen Rat zur authentischen Interpretation der Konzilstexte einrichten, der – ähnlich dem Päpstlichen Rat für die authentische Interpretation von Gesetzestexten – das Zweite Vatikanische Konzil für alle bindend-authentisch interpretiert.

Vor einem Jahr hat Msgr. Fernando Ocáriz, Konsultor der Glaubenskonkregation sowie Generalvikar des Opus Dei einen lehrreichen Beitrag zum Thema der Lehrautorität des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Ausgabe des L‘ Osservatore Romano vom 2. Dezember 2011 veröffentlicht. Dieser Beitrag soll – nicht zuletzt wegen seiner erhellenden Differenzierungen – hier noch einmal integral wiedergegeben werden:

Beitrag von Msgr. Fernando Ocáris, in:  L’Osservatore Romano vom 2. Dezember 2011

„Der … 50. Jahrestag der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils (25. Dezember 1961) ist Anlaß zum Feiern, aber auch zu einem erneuerten Nachdenken über die Rezeption und Umsetzung der Konzilsdokumente. Dabei gilt es, neben den unmittelbar praktischen Aspekten dieser Rezeption und Umsetzung mit ihren Licht- und Schattenseiten auch das Wesen der verstandesmäßigen Zustimmung, die den Konzilslehren gebührt, in Erinnerung zu rufen. Obwohl die Lehre darüber bekannt ist und dazu eine reichhaltige Bibliographie vorliegt, ist es angebracht, ihre Grundzüge erneut darzulegen, weil – auch in der öffentlichen Meinung – Unsicherheiten über die Kontinuität einiger Konzilslehren gegenüber früheren Aussagen des kirchlichen Lehramts bestehen.

Zunächst sollte in Erinnerung gerufen werden, daß die pastorale Ausrichtung des Konzils nicht bedeutet, daß es nicht doktrinell ist. Denn die pastoralen Aspekte gründen auf der Lehre, wie es anders gar nicht sein könnte. Vor allem aber muß betont werden, daß die Lehre auf das Heil ausgerichtet und seine Verkündigung ein wesentlicher Bestandteil der Pastoral ist. Zudem finden sich in den Konzilsdokumenten zweifellos viele Aussagen streng lehrmäßiger Natur: über die göttliche Offenbarung, über die Kirche, usw. Dazu schrieb der selige Johannes Paul II.: „Mit Gottes Hilfe vermochten die Konzilsväter im Verlauf vierjähriger Arbeit eine beachtliche Fülle von Lehraussagen und pastoralen Richtlinien für die ganze Kirche zu erarbeiten“ (Apostolische Konstitution Fidei depositum, 11. Oktober 1992, Einleitung).

Die dem Lehramt gebührende Zustimmung

Das Zweite Vatikanische Konzil definierte kein Dogma in dem Sinn, dass es keine Lehre durch eine endgültige Verlautbarung verkündete. Wenn eine Äußerung des Lehramtes der Kirche nicht kraft des Charismas der Unfehlbarkeit erfolgt, bedeutet dies jedoch nicht, daß sie als „fehlbar“ betrachtet werden kann und deshalb bloß eine „vorläufige Lehre“ oder „gewichtige Meinungen“ weitergebe. Jede Äußerung des authentischen Lehramts muß als das angenommen werden, was sie ist: als Lehre, die von Hirten verkündet wird, die in der apostolischen Nachfolge mit dem „Charisma der Wahrheit“ (Dei verbum, Nr. 8), „mit der Autorität Christi ausgerüstet“ (Lumen gentium, 25), „im Licht des Heiligen Geistes“ (ebd.) sprechen.

Dieses Charisma, diese Autorität und dieses Licht waren im Zweiten Vatikanischen Konzil gewiß vorhanden. Wenn man dies dem gesamten Episkopat, der cum Petro et sub Petro versammelt war, um die Gesamtkirche zu lehren, absprechen wollte, dann würde man etwas leugnen, das zum Wesen der Kirche gehört (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Mysterium Ecclesiae, 24. Juni 1973, Nr. 2-5).

Natürlich haben nicht alle in den Konzilsdokumenten enthaltenen Aussagen denselben lehrmäßigen Wert und verlangen daher nicht alle denselben Grad an Zustimmung. Die verschiedenen Grade der Zustimmung zu den vom Lehramt verkündeten Lehren wurden vom Zweiten Vatikanum unter der Nr. 25 der Konstitution Lumen gentium dargelegt. Später wurden sie zusammengefaßt in den drei Absätzen, die dem Nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis in der Formel der Professio fidei hinzugefügt wurden, die 1989 mit Approbation von Johannes Paul II. von der Kongregation für die Glaubenslehre veröffentlicht wurde.

Jene Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Glaubenswahrheiten in Erinnerung rufen, verlangen natürlich Zustimmung mit theologalem Glauben – nicht weil sie von diesem Konzil gelehrt wurden, sondern weil sie als solche bereits unfehlbar von der Kirche vorgelegt worden sind, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt. Ebenso verlangen andere Lehren, die vom Zweiten Vatikanum in Erinnerung gerufen und bereits früher durch das Lehramt in einer definitiven Äußerung verkündet wurden, volle und endgültige Zustimmung.

Die anderen lehrmäßigen Aussagen des Konzils verlangen von den Gläubigen einen Grad der Zustimmung, der als „religiöser Gehorsam des Willens und des Verstandes“ bezeichnet wird: eine „religiöse“ Zustimmung also, die nicht auf rein rationalen Motivationen gründet. Diese Zustimmung ist kein Akt des Glaubens, sondern vielmehr des Gehorsams, der aber nicht bloß disziplinärer Natur ist, sondern im Vertrauen auf den göttlichen Beistand für das Lehramt wurzelt, und sich daher „in die Logik des Glaubensgehorsams einfügen und von ihm bestimmen“ läßt (Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum veritatis, 24. Mai 1990, Nr. 23). Dieser Gehorsam gegenüber dem Lehramt der Kirche stellt keine Grenze für die Freiheit dar, sondern er ist im Gegenteil Quelle der Freiheit. Die Worte Christi: „Wer euch hört, der hört mich“ (Lk 10,16), sind auch an die Nachfolger der Apostel gerichtet; und Christus hören bedeutet, die Wahrheit in sich aufzunehmen, die befreit (vgl. Joh 8,32).

In den lehramtlichen Dokumenten kann es auch Elemente geben – und solche finden sich tatsächlich im Zweiten Vatikanischen Konzil –, die von ihrem Wesen her nicht eigentlich lehrmäßig, sondern mehr oder weniger von den Umständen bestimmt sind (Beschreibungen gesellschaftlicher Zustände, Vorschläge, Ermahnungen, usw.). Solche Elemente müssen respektvoll und dankbar angenommen werden, aber sie verlangen keine verstandesmäßige Zustimmung im eigentlichen Sinn (vgl. Instruktion Donum veritatis, Nr. 24-31).

Die Auslegung der Lehren

Die Einheit der Kirche und die Einheit im Glauben sind untrennbar. Daraus folgt auch die Einheit des Lehramts der Kirche, das in allen Zeiten der authentische Ausleger der göttlichen Offenbarung ist, die von der Heiligen Schrift und von der Überlieferung weitergegebenen wird. Das bedeutet unter anderem, daß eine wesentliche Eigenschaft des Lehramts seine Kontinuität und Homogenität durch die Zeiten hindurch ist. Kontinuität bedeutet nicht, daß es keine Entwicklung gäbe. Die Kirche schreitet durch die Jahrhunderte hindurch voran in der Erkenntnis, in der Vertiefung und in der daraus folgenden lehramtlichen Unterweisung im Glauben und in der katholischen Moral.

Im Zweiten Vatikanischen Konzil gab es einige Neuheiten lehrmäßiger Natur: über die Sakramentalität des Bischofsamts, über die bischöfliche Kollegialität, über die Religionsfreiheit, usw. Obgleich gegenüber Neuheiten in Fragen, die den Glauben oder die Moral betreffen und die nicht in einer definitiven Äußerung verkündet wurden, der religiöse Gehorsam des Willens und des Verstandes geboten ist, gab und gibt es Auseinandersetzungen über die Kontinuität einiger dieser Fragen mit dem früheren Lehramt, also über ihre Vereinbarkeit mit der Überlieferung. Angesichts von Schwierigkeiten, die auftreten können, wenn es darum geht, die Kontinuität einiger Konzilslehren mit der Überlieferung zu verstehen, besteht die katholische Haltung darin, unter Berücksichtigung der Einheit des Lehramts nach einer einheitlichen Auslegung zu suchen, in der die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils und frühere lehramtliche Dokumente einander gegenseitig beleuchten. Nicht nur das Zweite Vatikanum muß im Licht der früheren lehramtlichen Dokumente ausgelegt werden, einige dieser Dokumente werden im Licht des Zweiten Vatikanums auch besser verständlich. Das ist in der Kirchengeschichte nichts Neues. Man denke zum Beispiel daran, daß wichtige Begriffe, die in der Formulierung des trinitarischen und christologischen Glaubens im ersten Konzil von Nizäa verwendet wurden (hypóstasis, ousía), durch spätere Konzilien in ihrer Bedeutung viel genauer gefasst wurden.

Die Auslegung der Neuheiten, die das Zweite Vatikanum lehrt, muß daher, wie Benedikt XVI. sagte, die Hermeneutik der Diskontinuität zur Überlieferung zurückweisen und die Hermeneutik der Reform, der Erneuerung in der Kontinuität hervorheben (vgl. Ansprache, 22. Dezember 2005). Es handelt sich um Neuheiten in dem Sinn, daß sie neue Aspekte erläutern, die bis dahin vom Lehramt noch nicht formuliert worden waren, die aber lehrmäßig den früheren lehramtlichen Dokumenten nicht widersprechen, obwohl sie angesichts der veränderten geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände in einigen Fällen – zum Beispiel in der Frage der Religionsfreiheit – auf der Ebene der historischen Entscheidungen über ihre rechtlich-politische Umsetzung auch sehr unterschiedliche Folgen nach sich ziehen können. Eine authentische Auslegung der Konzilstexte kann nur durch das Lehramt der Kirche selbst erfolgen. Beim theologischen Bemühen um die Auslegung jener Abschnitte in den Konzilstexten, die Fragen aufwerfen oder Schwierigkeiten zu enthalten scheinen, ist es daher vor allem geboten, den Sinn zu berücksichtigen, in dem die späteren lehramtlichen Aussagen diese Abschnitte verstanden haben. Es bleiben aber rechtmäßige Räume theologischer Freiheit bestehen, um auf die eine oder andere Weise zu erklären, wie einige in den Konzilstexten vorhandene Formulierungen mit der Überlieferung nicht in Widerspruch stehen, und somit auch die eigentliche Bedeutung einiger in diesen Abschnitten enthaltener Ausdrücke zu klären.

Abschließend sollte man sich in diesem Zusammenhang vor Augen halten, daß seit dem Abschluß des Zweiten Vatikanischen Konzils beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen ist und in diesen Jahrzehnten vier Päpste einander auf dem Stuhl Petri nachgefolgt sind. Wer das Lehramt dieser Päpste und die entsprechende Zustimmung dazu von seiten des Episkopats untersucht, bei dem sollte sich eine eventuell gegebene Schwierigkeit in ruhige und freudige Zustimmung zum Lehramt, dem authentischen Ausleger der Glaubenslehre, verwandeln. Das erscheint auch dann möglich und wünschenswert, wenn weiterhin Aspekte bestehen bleiben, die rational nicht vollkommen erfaßt werden. In jedem Fall bleiben rechtmäßige Räume theologischer Freiheit für ein stets angemesseneres Bemühen um Vertiefung. So hat Benedikt XVI. kürzlich geschrieben, daß „die wesentlichen Inhalte, die seit Jahrhunderten das Erbe aller Gläubigen bilden, immer neu bekräftigt, verstanden und vertieft werden müssen, um unter geschichtlichen Bedingungen, die sich von denen der Vergangenheit unterscheiden, ein kohärentes Zeugnis zu geben“ (Benedikt XVI., Motu proprio Porta fidei, Nr. 4).“

Foto: Petersdom – Bildquelle: Andreas Gehrmann

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