Der spätere Papst Pius XII. über Therese Neumann

Ein Fund im vatikanischen Geheimarchiv.
Erstellt von Michael Hesemann am 13. Januar 2011 um 09:48 Uhr

Bei Dan Brown ist das vatikanische Geheimarchiv ein unterirdischer Tresorraum, den zu betreten lebensgefährlich ist: Ständig herrschten Unterdruck und Sauerstoffmangel, um die wertvollen Folianten hermetisch gegen Feuchtigkeit und Wärme zu isolieren. Würde sich ein Wissenschaftler trotzdem in diese High Tech-Anlage vorwagen, muss einer der Bibliothekare von außen die Sauerstoffzufuhr regulieren. Nichts ist von der Wahrheit weiter entfernt als der infantile Sensationalismus des Megaseller-Autoren. Tatsächlich befindet sich das Archivio Secreto des Vatikans in einem Seitenflügel der Vatikanischen Museen. Der Eingang liegt auf dem Cortile del Belvedere, die Arbeitsräume sind im dritten Stock. Außer einer etwas strengeren Kleiderordnung unterscheidet es sich in keiner Weise von anderen Staatsarchiven, etwa dem Bundesarchiv in Koblenz oder dem National Archive in Washington D.C. Und trotzdem ist es der Lebenstraum eines jeden Historikers, hier arbeiten zu dürfen.

Wer dies darf, ist freilich streng geregelt. Die Zahl der Mitarbeiter ist ebenso begrenzt wie die der Arbeitsplätze (sprich: Tische) für die forschenden Historiker, und so sind es in erster Linie logistische Zwänge, die den Zugang zum Vatikanarchiv auf einige wenige, Auserwählte beschränken. Auswahlkriterium ist dabei keineswegs die Glaubenstreue, nicht einmal das Taufbuch, sondern allein die wissenschaftliche Kompetenz. Wer nachweisen kann, dass er ein Thema ernsthaft bearbeitet und noch dazu ein Empfehlungsschreiben einer anerkannten Hochschule oder Forschungseinrichtung vorweisen kann, hat gute Chancen, den begehrten Zugangsausweis („Tessera Ingressi“) zu erhalten.

Auch ich hatte klare Absichten, als ich am Morgen des 18. November 2008 bei Bischof Sergio Pagano, dem Leiter des Vatikanischen Geheimarchivs, vorstellig wurde. Gerade war in Deutschland meine Pius XII.-Biografie „Der Papst, der Hitler trotzte“ erschienen. Jetzt wollte ich einen noch intensiveren Blick auf den Umgang Eugenio Pacellis, der damals als Apostolischer Nuntius erst in München, dann in Berlin diente, mit der aufstrebenden Nazi-Partei werfen. Einen Tag später, nachdem ich eine Kopie meines Reisepasses hinterlegt hatte und digital fotografiert worden war, begann meine Arbeit im „Sala Studio“, im Studiensaal des Geheimarchivs.

Die Bestände des Archivio Secreto sind sämtlich – zumindest bis zum Jahr 1939 – katalogisiert. Wer sie einsehen will, muss zunächst die umfangreichen Kataloge durchforschen, bevor ihm dann einer der freundlichen Mitarbeiter den entsprechenden Ordner zur gründlichen Inspektion übergibt.

In einem dieser Kataloge, in dem fein säuberlich der Bestand des „Archivs der Nuntiatur Berlin“ aufgelistet wird, stieß ich auf einen Eintrag, der mich neugierig machte. Denn in der Sammlung zum Thema „Baviera“ (Bayern) befindet sich eine Akte „Therese Neumann“. Nachdem ich die archivalische Signatur der „Akte Konnersreuth“ notiert hatte (Arch. Nunz. Berlino 95, Pos. XV, Fasc. 8) ließ ich sie mir bringen. Da ich über Therese Neumann bereits in meinem Buch „Stigmata“ (Güllesheim 2006) geschrieben hatte, interessierte mich brennend, wie der spätere Pius XII. zu Deutschlands bekanntesten Fall einer Trägerin der Wundmale Christi stand.

Die „Akte Konnersreuth“ umfasste 25 Seiten, darunter diverse Briefe und Zeitungsartikel, aber auch die Entwürfe von Antwortschreiben des Apostolischen Nuntius Eugenio Pacelli.

Ihr frühestes Dokument war ein Brief des Reichsarbeitsministers Dr. Heinrich Brauns (1868-1938) vom 22. Oktober 1927. Brauns war selbst katholischer Theologe und stammte aus dem Rheinland. Zunächst war er Kaplan in Krefeld und Essen, bevor er Volkswirtschaft und Staatswissenschaften studierte und in die Politik ging. Nach seiner Promotion 1905 wurde er Vorsitzender des „Volksvereins für das katholische Deutschland“, der größten katholischen Laienvereinigung im wilhelminischen Reich. Zudem wurde er in der katholischen Zentrumspartei aktiv und in der Weimarer Republik in den Reichstag gewählt. Treu der Soziallehre Leos XIII. verbunden prägte er von 1920 bis 1928 als Reichsarbeitsminister die Sozialpolitik der ersten deutschen Demokratie. Das Betriebsrätegesetz (1920), die Arbeitszeitverordnung (1923), das Arbeitsgerichtsgesetz (1926) sowie das Gesetz  über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (1927) entstanden unter seiner Verantwortung.

Das Landmädchen Therese Neumann (1898-1962) aus dem oberpfälzischen Konnersreuth hatte nach acht Jahren des Leidens, der Visionen und schließlich ihrer übernatürlichen Heilung durch die Fürsprache der hl. Therese von Lisieux im März 1926 die Wundmale Christi empfangen. Seit der Karwoche 1926 hatte sie regelmäßige Visionen vom Leiden Jesu, seit dem Weihnachtsfest 1926 nahm sie keine Nahrung mehr zu sich, lebte ausschließlich von der ihr täglich gespendeten hl. Eucharistie. Als die ersten Zeitungen über das „Geschehen von Konnersreuth“ berichteten, setzte ein Pilgersturm ein, der mit einigen Unterbrechungen bis zu ihrem Tod andauerte. Im Juli 1927 wurde der „Fall Neumann“ durch das bischöfliche Ordinariat in Regensburg untersucht. Dazu berief man eine Ärztekommission ein, deren Aufgabe es war, die Stigmatisierte 14 Tage lang Tag und Nacht zu beobachten und medizinisch zu untersuchen. Abschließend musste der Leiter der Untersuchung, der protestantische Psychiater Prof. Dr. Georg Ewald von der Universität Erlangen, einräumen, dass er „einen Betrug bei der Stigmatisation des vorliegenden Falles für ausgeschlossen“ halte.

Umso heftiger reagierte die linke Presse dieser Zeit. So erschien im „Vorwärts“, dem Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, am 18. Oktober 1927 ein vernichtender Bericht über den „Rummel von Konnersreuth“. Die einhellige Meinung der zitierten „Experten“ war, dass es sich bei den Stigmata um einen schweren Fall von Hysterie, bei der Nahrungslosigkeit aber um einen gezielten Betrug handeln müsse. Die linksradikale Presse forderte sogar die zwangsweise Internierung der Stigmatisierten. Während die meisten Katholiken dies als die übliche „kirchenfeindliche Hetze“ abtaten, zeigte sich Dr. Brauns in seinem Schreiben an den Nuntius doch eher besorgt. „Ich habe volles Verständnis für geheimnisvolle Vorgänge der Konnersreuther Art und stehe ihnen, wenn auch mit der dem konkreten Einzelfall gegenüber gebotenen Zurückhaltung, so doch mit einer gewissen ‚Pietät’ gegenüber, die hier ein besonders gnadenvolles Handeln der Vorsehung im Dienste ihrer Zwecke als möglich anerkennt.“ Trotzdem befürchtete er, dass die „öffentliche ‚Schaustellung’ des Frl. Therese Neumann, wenn sie auch noch so gut gemeint sein mag“, eine „gegenteilige, dem Guten abträgliche Wirkung erzeugen“ könne. Der Rummel um die Stigmatisierte, die Wundersucht einfacher Gläubiger, die Gefahr einer Kommerzialisierung und einer entsprechenden Reaktion der kirchenfeindlichen Presse machten ihm Sorgen: „Für religions- und kirchenfeindliche Richtungen sind solche Erscheinungen dann die ‚neuen Beweise für die kulturelle Minderwertigkeit des Katholizismus’. Solche Möglichkeiten sollte man gerade in der gegenwärtigen so überaus schweren Zeit den Andersdenkenden und Gegnern nicht geben.“

Pacelli reagierte umgehend. Nach dem Tod von Bischof Franz Anton von Henle am 11. Oktober 1927 war das Bistum zu diesem Zeitpunkt verwaist und stand unter Verwaltung des Kapitularvikars Johannes Baptist Hierl, an den der Nuntius das Schreiben des Ministers am 26. Oktober weiter leitete.  Nur zwei Tage später, am 28. Oktober 1927, antwortete dieser. Er würde die Besorgnis des Herrn Ministers teilen, schrieb Kapitularvikar Hierl dem Nuntius. Daher habe er bereits dafür gesorgt, dass sich der Rummel lege, nämlich der Familie der „Resl“ und dem Ortspfarrer nahegelegt, alle Empfänge einzustellen. Auch die Familie Neumann habe dem zugestimmt, schon um die „Resl“ zu schonen. „Außerdem wurden in der Öffentlichkeit schamlose Lügen der Linkspresse über Therese Neumann richtig gestellt und an dieselbe wie deren Eltern die Anregung gegeben, dass sie gegen die betr. Zeitungen Klage stellen sollten.“

„Ich brauche Eurer Bischöflichen Gnaden nicht zu versichern, dass ich davon mit ganz besonderem Interesse Kenntnis genommen habe“, erwiderte Pacelli am 1. November 1927. Dass dies keine Höflichkeitsfloskel war, verrät die Korrespondenz des Nuntius mit dem Journalisten Dr. Fritz Gerlich, die nur zwei Wochen später begann.

Dr. Gerlich, ein Protestant, war zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der größtem süddeutschen Tageszeitung, der „Münchener Neuesten Nachrichten“, dem Vorläufer der „Süddeutschen Zeitung“. Schon im Juli hatte er seinen besten Reporter, Erwein Freiherr von Aretin, nach Konnersreuth geschickt. Der Leiter des Innenresorts der MNN hatte den Auftrag, „den ganzen katholischen Schwindel zu entlarven“. Doch als er in seine Redaktion zurückkehrte, musste er Gerlich enttäuschen: „Das sieht mir ganz und gar nicht nach einem Schwindel aus“. Der Freiherr hatte erfahren, dass die „Resl“ in ihren Ekstasen Worte einer fremden Sprache wiedergab, die ein namhafter Experte als Aramäisch, die Sprache Jesu, identifiziert hatte. Nachdem er selbst Zeuge einer Passionsvision wurde, verfasste von Aretin einen längeren Bericht, der am 3. August 1927 in der MNN-Wochenendbeilage „Die Einkehr“ erschien. Als Kommunisten wie Nazis daraufhin die Zeitung des „Volksbetruges“ bezichtigten, beschloss Dr. Gerlich, dem Fall selbst in Augenschein zu nehmen und ihn doch noch als „geschicktes Theater“ zu entlarven. Doch in den fünf Tagen, die er im September 1927 in Konnersreuth verbrachte, wurde er vom Skeptiker zum Gläubigen, begann ein gerader Weg hin zu seiner eigenen Konversion zum Katholizismus und zu seinem Widerstand gegen die Nazis, der ihm schließlich das Leben kosten sollte.

Offenbar hatte Dr. Gerlich vom Interesse des Nuntius am „Fall Konnersreuth“ erfahren. Jedenfalls übersandte er Pacelli am 12. November 1927 mit einem handschriftlichen Begleitschreiben den Bericht, den er für die MNN über seine Recherchen in Konnersreuth verfasst hatte. Da sich der Nuntius gerade zur Erholung nach Rorschach in die Schweiz begeben hatte, ließ die Antwort ein wenig auf sich warten. Im Vatikanarchiv ist nur der von Pacelli eigenhändig in die Maschine getippte und später handschriftlich korrigierte Entwurf erhalten, der auf den 23. November 1927 datiert ist. Er ist noch wertvoller als der Brief selbst, denn er enthüllt die persönliche Einstellung des späteren Papstes zu Therese Neumann. Daher lohnt es sich, an dieser Stelle die Urfassung zu zitieren:

„Euer Hochwohlgeboren bitte ich(,) meinen ergebensten Dank entgegennehmen zu wollen für Ihren mir freundlichst zugestellten Bericht über Ihre „Erlebnisse in Konnersreuth“. Der Bericht ist mit Ihrem sehr geschätzten Begleitschreiben nach hier, wohin ich mich zur Erledigung größerer schriftlicher Arbeiten zurückgezogen habe, zugesandt worden, und ich habe ihn mit besonderem Interesse gelesen. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, der Konnersreuther Fall werde sich als echt erweisen und religiös auferbauend (sic!) wirken. Mit dem Ausdruck stets gleicher Hochachtung und Verehrung Euer Hochwohlgeboren ergebenster (Pacelli)“

In der Korrektur stellte er zunächst seinem „besonderen Interesse“ ein „ganz“ voraus und hoffte, der Fall „möge“ sich als echt erweisen. Aus der schwärmerischen „Verehrung“ wird zudem eine sachliche „Wertschätzung“. Danach erst berichtigte er sich, wurde ihm offenbar klar, dass er mit dieser eindeutig positiven Bewertung den zuständigen bischöflichen Autoritäten zuvorgekommen wäre und damit seine Befugnisse als Nuntius überschritten hätte. Also strich er den Satz, in dem er „der Hoffnung Ausdruck“ verlieh, wieder.

Doch auch wenn Eugenio Pacelli es 1927 für klüger hielt, seine Hoffnungen und Erwartungen an Konnersreuth für sich zu behalten, spricht sein Briefentwurf Bände. Ganz offensichtlich erahnte der spätere Papst, der zeitlebens der Mystik gegenüber aufgeschlossen war, das Wirken Gottes in den Ereignissen von Konnersreuth.

Dr. Gerlich jedenfalls fühlte sich ermutigt, dem Nuntius auch zwei weitere Artikel zum Thema Konnersreuth zu übersenden, die im Dezember 1927 in der „Einkehr“ erschienen. Und jedes Mal antwortete Pacelli. Am 18. Dezember 1927 versicherte er, er habe auch den zweiten „Bericht über Therese Neumann mit besonderem Interesse gelesen“. Am 27. Dezember 1927 schrieb er im Entwurf, er habe auch diesen Artikel „mit demselben großen Interesse gelesen wie Ihre früheren Artikel“, bevor er auch diese Form der Stellungnahme wieder strich. Erst unserer Generation sollte es vorbehalten sein, zu erfahren, wie er wirklich über die Stigmatisierte dachte.

Am 10. Dezember 1929 verließ Eugenio Pacelli Berlin für immer. Papst Pius XI. hatte ihn nach Rom abberufen, wo der Kardinalspurpur und das Amt des Kardinalstaatssekretärs auf ihn warteten. Doch noch am 4. Dezember 1929 fand er Zeit, auch Freiherr von Aretin zu danken, der in der „Einkehr“ „über das demnächst erscheinende Buch Dr. Gerlichs über Therese Neumann“ berichtet hatte. Wir können wohl davon ausgehen, dass sein Interesse an Konnersreuth ein Leben lang anhielt

Michael Hesemann ist Historiker, Autor diverser Bücher zur Kirchengeschichte und freier Mitarbeiter der kathnews-Redaktion. Im letzten Jahr erschien seine Pius XII.-Biografie „Der Papst, der Hitler trotzte“ im Augsburger St. Ulrich Verlag. Er recherchierte u.a. in den Akten der Seligsprechungskommission und im Geheimarchiv des Vatikans. Sein aktuellstes Werk trägt den Titel „Maria von Nazareth“ und ist ebenfalls im Augsburger St. Ulrich Verlag erschienen.

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