Interpretationsregeln für das Zweite Vatikanische Konzil

Mit dem Konzilsjubiläum tritt das Pontifikat Benedikts XVI. in eine entscheidende Phase für den künftigen Weg der Kirche.
Erstellt von Gero P. Weishaupt am 11. Oktober 2012 um 20:48 Uhr
Audienzhalle, Papst Benedikt XVI.

Ein Beitrag von Dr. iur. can. Gero P. Weishaupt. Spätestens seit der programmatischen Ansprache Papst Benedikts XVI. an die Römische Kurie vom 22. Dezember 2005 ist es jedem bewuβt geworden, dass die Ursache der nachkonziliaren Kirchenkrise ein falsches Verständnis der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils ist. Mit dem Konzilsjubiläum tritt nun das Pontifikat Benedikts XVI. in eine entscheidende Phase ein.  Er selber war als Theologe und Konzilsperitus auf das Engste mit der Vorbereitung und dem Verlauf des Konzils verbunden. Er ist einer der wenigen Zeitzeugen dieses wohl bedeutendsten Ereignisses in der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Darum kann er wie kaum ein anderer auch sagen, was das Konzil wollte und was es nicht wollte.

Authentische Interpretation

Als Papst verfügt Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. über eine mit dem Petrusamt gegebene Vollmacht, die über die eines Theologen, Konzilsperitus und Akademikers hinausgeht: Er vermag die  Texte des Konzils authentisch und damit für alle – auch für Bischöfe und Theologen – bindend zu interpretieren. Er könnte zu diesem  Zweck eine Instanz an der Römischen Kurie einrichten, die in seinem Namen die Texte authentisch interpretiert. Man könnte hier an einen Päpstlichen Rat für  die authentische Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils denken, ähnlich dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, dem es u. a. zukommt, Gesetzestexte der Kirche authentisch-bindend zu deuten. Die Ansprache des Papstes vom 22. Dezember 2005 und das am 11. Oktober 2012 begonnene Konzilsjubiläum wecken Hoffnungen auf den Einsatz Papst Benedikts XVI. für die zutreffende Interpretation des Konzils und damit für den Beginn einer Überwindung der nachkonziliaren Kirchenkrise.

Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles

Auch die  Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil enthalten in der Regel authentische Interpretationen des Konzils. So muss etwa die Erklärung der Glaubenskongregation “Dominus Iesus” von 2000 in ihren ekklesiologischen Darlegungen als eine authentische Auslegung des in der Nachkonzilszeit falsch verstandenen “subsistit” in Nr. 8 der Kirchenkonstitution Lumen gentium gewertet oder die nachsynodale Apostolische Adhortation Christifidels laici von 1988 u. a. als eine authentische Klarstellung des Verhältnisses von besonderem, in der Weihe begründetem, und allgemeinem, in der Taufe  begründetem Priestertum gelesen werden. Dieses Verhältnis geriet bekanntlich nach dem Konzil aufgrund einer einseitigen Deutung der Nr. 10 von Lumen gentium, wo die Rede davon ist, dass, wenngleich (licet) das besondere Priestertum sich nicht nur graduell, sondern auch von seinem Wesen her vom allgemeinen Priestertum der Laien unterscheidet, dennoch beide Formen des einen Priestertums Christus komplimentär und damit aufeinander bezogen sind, in eine Schieflage. Eine Bruchhermeneutik nach dem Konzil hat dazu geführt, dass die eine Wahrheit des besagten Satzes in Nr. 10 von Lumen gentium auf Kosten der anderen überbetont wurde. Christifideles laici korrigierte diese Fehldeutung und –entwicklung.

Erklärung des Generalsekretärs des Zweiten Vatikanischen Konzils

Solange keine authentischen Interpretationen vorliegen, gelten für die Konzilstexte die herkömmlichen hermeneutischen Regeln. Am 6. März 1964 legte die Theologische Kommission des Zweiten Vatikanischen Konzils, deren Präsident der Präfekt des Heiligen Offizium (später Glaubenskongregation), Alfredo Kardinal Ottaviani, gewesen ist, eine Erklärung über die Lehrautorität des Konzils vor. Der Generalsekretär des Konzils, Pericles Kardinal Felice, wiederholte diese Erklärung noch einmal im Zusammenhang mit der Nota explicativa praevia zum dritten Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen gentium vom 16. November 1964. Der Text lautet in der deutschen Übersetzung des LThK, I, 349 f.:

Unter Berücksichtigung des konziliaren Verfahrens und der pastoralen Zielsetzung des gegenwärtigen Konzils definiert das Konzil nur das als für die Kirche verbindliche Glaubens- und Sittenlehre, was es selbst deutlich als solche erklärt. Was aber das Konzil sonst vorlegt, müssen alle und jeder der Christgläubigen als Lehre des obersten kirchlichen Lehramtes annehmen und festhalten entsprechend der Absicht der Heiligen Synode selbst, wie sie nach den Grundsätzen der theologischen Interpretation aus dem behandelten Gegenstand oder aus der Aussage weise sich ergibt.“

Daraus folgende zwei Interpretationsgrundsätze:

1. Die pastoralen Aussagen des Konzils beruhen zwar auf dogmatischen Prinzipien, sind aber durch ihre Anwendung auf die jeweils historische Situation und Praxis wandelbar und damit nicht absolut. Von dieser Relativität und Wandelbarkeit bleiben freilich ihre dogmatischen Implikationen unberührt.

2. Die Verbindlichkeit einer vom Konzil formulierten Lehre ergibt sich

– aus der Sprechweise und

– aus der Häufigkeit ihrer Vorlage (vgl. LG, Nr. 25)

Tradition als Interpretationshorizont

Darum muss die Lehraussage des Konzil immer im Horizont der Tradition im Sinne des lebendigen Lehramtes der 2000jährigen Kirchengeschichte interpretiert werden. Der Nachweis dieser Kontinuität läßt sich häufig u. a. aus den Zitaten von Konzilstexten, Lehraussagen von Päpsten, Kirchenvätern und mittelalterlichen Theologen in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils selber erheben. Dazu vermerkt der Wiener Dogmatiker Jan Heiner Tück, „Ein reines Pastoralkonzil?“, in: Communio 4/2012, 445):

Darüber hinaus hat ein Konzilsdokument Gewicht durch die Quellen, die es zitiert. Indem das II. Vatikanum hinter ein nachtridentinisch und gegenreformatorisch enggeführtes Traditionsverständnis auf die Quellen der heiligen Schrift und der Kirchenväter zurückgreift, indem es zugleich Aussagen der scholastischen Theologie und der Vorgängerkonzilien, aber auch päpstliche Verlautbarungen von unterschiedlichem Rang zitiert, kommt seinen Dokumenten immer auch die entsprechende Verbindlichkeit der zitierten Quellen zu. Dies gilt nicht nur für die Konstitutionen, sondern auch für die Dekrete. Die Lehre des Konzils, die sich unterschiedlicher literarischer Genera bedient, ist daher keineswegs unverbindlich oder beliebig“.

Konkrete Interpretationsregeln

Die folgenden Interpretationsregeln für die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils übernehme ich – soweit sie sowohl der als „fortschrittlich“ bezeichneten Mehrheit und als auch der als „konservativ“ geltenden Minderheit auf dem Konzil gleichermaßen gerecht werden – von Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte, Verlauf, Ergebnisse, Nachgeschichte, 2. Auflage, Würzburg 1994, 148-160. Nur in der Zusammenschau beider Positionen kann der authentische Wille des höchsten Lehramtes der Kirche erfaβt werden, wobei die „konservative“ Minderheit der Konzilsväter einen besonderen lehramtlichen Akzent auf dem Konzil erhielt, als sie ausweislich der Acta Synodalia des Konzils durch Papst Paul VI. nachdrücklich unterstützt und gefördert wurde. Nur im Konsens aller Konzilsväter – einschliesslich und für einen kollegialen Akt entscheidender Vorgaben des Papstes – wie er sich in der Endredaktion der Texte und den Abstimmungen darüber in den Generalversammlungen des Konzils Ausdruck verschafft hat, drückt sich der Wille des höchsten authentischen Lehramtes des Zweiten Vatikanischen Konzils aus. Diesen wesentlichen und wichtigen hermeneutischen Aspekt darf man bei der Interpretation und Applikation der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht übersehen oder vernachlässigen. Andernfalls kommt es zu einer Verfälschung des Konzils und seiner Absichten.

Spreu vom Weizen trennen

Wenngleich ich Otto Hermann Pesch in seinem zitierten Buch streckenweise nicht folgen kann, gilt es dennoch – wie bei jedem Autor – auch bei ihm die Spreu vom Weizen zu trennen. Das Kriterium dafür ist das authentische Lehramt der Kirche. So schreibt er etwa über das, was Papst Benedikt XVI. in seiner programmatischen Ansprache an die Mitarbeiter der Römischen Kurie am zu Beginn seines Pontifikates am 22.12.2005 die „Hermeneutik der Diskontinuität“ nannte:

Schon gleich nach Abschluß des Konzils setzte für etwa ein halbes Jahrzehnt eine euphorische Konzilsinterpretation ein, die die Konzilstexte selbst im Grund schon als bei ihrer Verabschiedung überholt ansah und das Konzil nur als Bewegungsfaktor eines umfassenden Neuaufbruchs der Kirche in die Zukunft verstand. Papst Johannes‘ XXIII. Wort von der ‚frischen Luft‘ die in die Kirche einziehen müsse, wurde als Aufforderung zum Traditionsbruch verstanden. Das konnte nicht nur deshalb nichts als Enttäuschung nach sich ziehen, weil diejenigen, die der vorkonziliaren Kirche nachtrauerten, ja immer noch da waren und Terrain zurückgewinnen trachteten, sondern vor allem deshalb, weil eine solche Haltung weder vom Buchstaben noch vom sogenannten ‚Geist‘ der Konzilstexte her begründet war“ (O. H. Pesch, a.a.O., 149).

Im folgenden nun die vom O. H. Pesch vorgelegten Interpretationsregeln:

1. Kein Konzil kann grundsätzlich gegen die kirchliche Tradition interpretiert werden.

Nun ist der Eindruck des Neuen in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils besonders unabweislich, mehr als bei den meisten anderen Konzilien der Kirchengeschichte. Aber auch dies ist kein Traditionsbruch, sondern die Verlebendigung vergessener alter Traditionen, die kritisch gegen die Einführungen der jüngeren“ (lies: nachtridentinischen) „aufgeboten wird. Es ist wie eine verkehrte Welt, aber wahr: Die sogenannten ‚progressiven‘ Konzilsväter waren in Wirklichkeit die wahrhaft ‚Konservativen‘, denn sie suchten die alte Tradition der Kirche – konkret also die gemeisname ost- und wekstkirchliche Tradition des ersten Jahrtausends – zu ‚bewahren‘ gegen jüngere Fortbildungen rein westkrichlicher Art“ (O. H. Pesch, a.a.O., 149). Pesch spielt bei den „sogenannten ‚progressiven‘ Konzilsvätern“ auf jene an, die sich, inspiriert von ihren theologischen Beratern und Periti, auf die sogenannte Nouvelle Theologie beriefen.

2. Bei kirchenamtlichen Texten wie denen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist immer mit Kompromissformeln zu rechnen.

Beim Zweiten Vatikansichen Konzil wurde ein Kompromisstyp gefunden, „der in der Konzilsgeschichte bisher ohne Beispiel ist“. … In den Texten … ist im Extremfall nicht selten mit dem Kompromiss des ‚kontradiktorischen Pluralismus‘ zu rechnen. Der Audruck ‚kontradiktorischer Pluralismus‘ stammt von Max Seckler … . Wer auf den Kompromißcharakter vieler Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils stößt und daraufhin davon ausgeht, daß ihre Auslegung nach verschiedenen Richtungen offen ist, wird immer wieder erleben daß die einen begierig danach greifen, sich darauf berufen und dann sagen: ‚Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: …‘, während die anderen sagen: ‚Das hat das Konzil so nicht gemeint!'“ Das Bedrängende ist, daß beide recht haben“ (O. H. Pesch, a.a.O., 151).

3. Wenn in den Konzilstexten etwas Besonderes eingeschärft wird, besteht der dringende Verdacht, dass es gerade relativiert und abgeschwächt werden soll.

Wo das Neue geltend gemacht wird, finden sich immer wieder, meist in Nebensätzen oder Parenthesen, emphatische Treuebekundungen zum Althergebrachten“ (O. H. Pesch, a.a.O., 154). O. H. Pesch nennt als Beispiele zentralistische Bestrebungen gegenüber dem Modell der Kirche als Communio. Man könnte hier auch die Spannung von Universal- und Partikularkirche, Primat und Kollegialität oder zwischen besonderen und allgemeinem Priestertum als Beispiele anführen.

4. „Die Vorgeschichte des Konzils kennen“

Ausschließlich im Blick auf die Vorgeschichte und auf den konziliaren Diskussionsprozeß selbst läßt sich der Sinn eines Konzilstextes und der Grund seiner Verbindlichkeit ermitteln“ (O. H. Pesch, a.a.O., 157).

5. „Der ‚Geist des Konzils‘ ist der aus den Akten und im Blick auf die Vorgeschichte des Konzils hervortretende Wille der … Konzilsväter ….

Foto: Papst Benedikt XVI. – Bildquelle: Andreas Gehrmann

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