Latein – tot oder quicklebendig?

Maximilian Herold hat den Lateinlehrer Dr. Nikolaus Groß getroffen und ihn zur Zukunft des Lateins an deutschen Gymnasien befragt.
Erstellt von kathnews-Redaktion am 2. Februar 2016 um 12:34 Uhr
Kolosseum in Rom

Ulm (kathnews/firstlive.de). Latein ist laut Duden eine tote Sprache, denn es gibt niemanden, der Latein als seine Muttersprache spricht. Trotzdem wird an vielen Gymnasien in Deutschland immer noch die indogermanische Sprache unterrichtet. Zeugen diese Umstände von einem veralteten Bildungsplan oder einer umfassenden Allgemeinbildung, die Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen erhalten? Dr. Nikolaus Groß ist Lehrer für Latein, Altgriechisch und Biologie am württembergischen Humboldt-Gymnasium in Ulm.

Herr Dr. Groß, an zahlreichen Gymnasien in Deutschland wird heute noch das Fach Latein unterrichtet. Schülerinnen und Schüler sollten in der Schule doch eigentlich auf ihren zukünftigen beruflichen und gesellschaftlichen Alltag vorbereitet werden. Hilft dabei Latein?

Zur Vorbereitung auf den beruflichen und gesellschaftlichen Alltag trägt der Lateinunterricht in mehrfacher Hinsicht bei. Dazu gehört zweifellos die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten in der Schriftsprache, wo sich heute mehr denn je Schwächen bei den Schülern zeigen, die oft kaum noch über das im Deutschunterricht geforderte Mindestmaß hinaus Literatur lesen. Übersetzungsübungen fördern sprachlogisches Denken, Ausdrucksvermögen, Gefühl für Stilebenen. Begriffe der Grammatik lernt man durch das ausgeprägte Endungssystem im Latein- bzw. Griechischunterricht viel besser als im Unterricht in den modernen Schulsprachen. Das Verständnis von Fremd- und Fachwortschatz, aber auch von Wörtern der deutschen Schriftsprache, die in der Umgangssprache des Schülers nicht vorkommen, wird durch den Lateinunterricht enorm erweitert. Das römische Recht, neben der Verbreitung griechischer Kultur und Wissenschaft sicher die größte zivilisatorische Leistung der Römer, hat die Grundlagen der modernen Rechtssysteme geschaffen.

Latein ist und bleibt eine wesentliche Grundlage der Bildung, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Nicht zu Unrecht nennt man es die „Muttersprache Europas“. Wenn man nach dem Nutzen eines Schulfachs an einer höheren Schule fragt, kann es nicht um das Aufrechnen eines möglichen materiellen Gewinns im späteren Berufsleben gehen. Kein Schüler kann sicher wissen, welches Spezialwissen er in seinem späteren Beruf brauchen wird. Wer beruflich weiterkommen will, muss neben den im jeweiligen Beruf erforderlichen Fachkenntnissen über eine gute Allgemeinbildung verfügen. Er darf sich nicht durch Fachidiotentum und Schubladendenken beschränken lassen, sondern er muss sich um vernetztes Denken bemühen. Latein bietet eine Brücke zu den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft und Kultur.

Wenn sich Schülerinnen und Schüler entweder für den Latein- oder Englischunterricht entscheiden müssten, was würden Sie als Lehrer in Hinblick auf die Entwicklung der heranwachsenden Jugend empfehlen?

Es wäre ganz verfehlt, Lateinunterricht als Alternative zum Unterricht in einer modernen Sprache zu empfehlen. Neu- und altsprachlicher Unterricht haben verschiedene Ziele, sie sollten einander ergänzen, aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. Englischunterricht vermittelt vor allem praktische Fertigkeiten im Umgang mit der englischen Sprache, die für den modernen Alltag und das Berufsleben zweifellos unerlässlich sind. Dagegen bietet Latein Fremd- und Kulturwortschatz, Fachterminologie, Sprachreflexion, Kenntnisse im Bereich der Mythologie, Geschichte und Kultur, die auf einer anderen Ebene liegen, aber für einen Schüler, der einen akademischen Beruf anstrebt, sehr wohl auch eine große Bedeutung haben.

In letzter Zeit ist ein Zuwachs an Lateinschülern und Studenten zu verzeichnen. Was hat sich bei Eltern, Schülern und in unserer Gesellschaft verändert, dass Latein als Schul- und Studienfach wieder im Trend liegt?

Der Lateinunterricht steht zu recht längst nicht mehr im Ruf, ein trockenes Einpauken von „verstaubtem“ Wissen und rückwärtsgerichtetem Denken zu sein. Andererseits ist nach vielen Experimenten mit dem Fächerkanon der Schule manchem klargeworden, dass es unveräußerliche Grundlagen unserer Bildung gibt, und das einige von diesen im Lateinunterricht glaubhaft vermittelt werden.

Anfang März 2015 titelte die Westfälische Zeitung „Lehrer in spe können aufatmen“. Wer künftig in Nordrhein Westfalen eine moderne Fremdsprache auf Lehramt studieren will, muss kein Latinum mehr nachweisen, denn im Rahmen der laufenden Revision des Lehrerausbildungsgesetzes will NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann Latein als Zugangsvoraussetzung abschaffen. Was halten Sie von dieser Entscheidung? Wird sich die Abschaffung der Latein-Pflicht auf das Allgemeinbildung bzw. die Qualität der Lehrer auswirken?

Die Abschaffung des Latinums als Voraussetzung für das Studium einer modernen Fremdsprache beruht auf Unkenntnis der wahren Verhältnisse. Wer Englisch, Französisch, Spanisch oder andere moderne europäische Sprachen für das Lehramt studiert, der muss auch die Entstehungs- und Literaturgeschichte dieser Sprachen kennenlernen. Denn er soll sich ja mit ihnen im Rahmen eines ernsthaften wissenschaftlichen Studiums befassen, und sie nicht nur für Konversationsübungen und touristische Events benutzen. Zu einem wirklichen Verständnis der Entstehungsgeschichte dieser Sprachen, ihres Wortschatzes und ihrer Grammatik muss man aber auch Lateinkenntnisse haben. Denn der Einfluss des Lateinischen auf alle europäischen Sprachen in Form von Lehn- und Fremdwörtern, aber auch in morphologischer und syntaktischer Beziehung, ist kaum zu überschätzen. Übrigens hat Englisch noch wesentlich mehr lateinischstämmige Wörter als das Deutsche.

Lange Zeit wurde die Digitalisierung an Schulen völlig ausgeblendet. Nun erscheinen immer mehr digitale Unterrichtspläne, Lernsoftware sowie interaktive und digitale Schulbücher. Dazu kommt der Trend, dass Schülerinnen und Schüler einen längeren Zeitraum im Ausland an einer fremden Schule verbringen, mit dem Ziel, Sprachkenntnisse zu verbessern. Inwiefern können heutige Schülerinnen und Schüler für das Unterrichtfach Latein begeistert werden und was macht ein zeitgemäßes Unterrichtskonzept für Latein aus?

Auch für den Lateinunterricht gibt es längst digitale Materialien. Diese können durchaus nützlich sein, man sollte ihren didaktischen Nutzen aber nicht überschätzen und ihren Einsatz nicht übertreiben. Schließlich verbringen Schüler ja bereits einen großen Teil ihrer Freizeit mit ihren PCs und Smartphones und nicht zu Unrecht wird vor „Cyberkrankheit“ und „digitaler Demenz“ gewarnt. Lern- und Spielsoftware ist kein Ersatz für Unterrichtsgespräche von Angesicht zu Angesicht.

Die meisten Lateinlehrer bemühen sich sehr um Verlebendigung ihres Unterrichtsstoffes: Latein wird nicht nur gelesen und übersetzt, sondern auch aktiv gebraucht, in lateinischen Gesprächen, Ferienkursen, Theaterstücken, Übersetzungen von modernen Comics, Märchen und Romanen. Die griechisch-römischen Mythen üben eine zeitlose Faszination auf Schüler aus; sie werden immer wieder auch in modernen Fassungen rezipiert. Im Internet gibt es eine große Zahl lateinischer Websites, Nachrichten und Diskussionsforen.

Lieber Herr Dr. Groß, vielen Dank für das Gespräch!

Foto: Kolosseum in Rom – Bildquelle: Kathnews

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